Kritik

Marie Darrieussecqs Roman "Das Meer von unten"

Das Buch fragt nach der Verantwortung des Einzelnen im Umgang mit Migranten
Anne Fritsch |
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Ein mit Migranten besetzten Boot vor der Küste Libyens.
picture alliance/dpa/Ärzte ohne Grenzen 3 Ein mit Migranten besetzten Boot vor der Küste Libyens.
Marie Darrieussecq
picture alliance / dpa 3 Marie Darrieussecq
Die Schriftstellerin Marie Darrieussecq.
picture alliance / dpa 3 Die Schriftstellerin Marie Darrieussecq.

Irgendwo auf dem Mittelmeer kreuzen sich zwei Schiffe: ein Kreuzfahrtschiff und ein Flüchtlingsboot. Die Reisenden könnten unterschiedlicher kaum sein. Die einen schlürfen Champagner an Deck, die anderen treiben mit Rettungswesten im kalten Wasser. Die meisten von ihnen werden gerettet, möglichst unauffällig an Bord genommen und versteckt, bis die Küstenwache sie in Empfang nimmt. Der ungetrübte Genuss der Kreuzfahrenden soll nicht von der erbärmlichen Wirklichkeit gestört werden.

Einige bekommen das nächtliche Drama unter Deck aber natürlich mit. Die Psychologin Rose ist eine von ihnen. Sie hat diese Reise mit ihren zwei Kindern angetreten, ein Geschenk ihrer Mutter. Eine Auszeit soll es sein, vom Leben, vom Beruf, auch: vom Ehemann, der in Frankreich den Umzug von Paris aufs Land vorbereitet. Eine Auszeit von einem gutbürgerlichen Leben mit dem ganz normalen Frust, mit viel "Klahoni", wie ihr Mann das nennt: "Klagen auf hohem Niveau".

Marie Darrieussecq
Marie Darrieussecq © picture alliance / dpa

Marie Darrieussecq schafft für ihren Roman "Das Meer von unten" eine exemplarische Ausgangssituation, lässt zwei Welten aufeinanderprallen, die alles miteinander zu tun haben und möglichst gar nichts miteinander zu tun haben wollen. Rose wird gepackt von Aktionismus, nachdem ein junger Mann sie angefasst, sie mit einer Geste um Wasser gebeten hat. Sie fühlt eine "Schockwelle", denkt an Adoption, holt Kleidung ihres schlafenden Sohnes aus der Kabine, stiehlt sein Handy, um es dem Fremden zu geben. Von nun an sind diese beiden Leben miteinander verknüpft: Sie verfolgt seinen Standort beziehungsweise den des Handys mit einer App; als ihr Sohn, dem sie nicht die Wahrheit sagt, verzweifelt sein altes Handy anruft, ertönt bei dem Fremden der Klingelton: "ACHTUNG DEINE MA IST DRAN, ALTER, DEINE MA."

Darrieussecq erzählt chronologisch, aber nicht konstant. Sie verlässt eine Situation, um Monate oder gar Jahre später in eine neue Situation wieder einzusteigen. Und wo die Ausgangssituation konstruiert wirkt, entwickelt sich im Laufe des dichten Buches eine Vielzahl an Optionen und Handlungsmöglichkeiten. Die Begegnung der Französin mit dem jungen Nigerianer hat für beide Folgen und wirft jede Menge Fragen auf. Wo fängt die Verantwortung des Einzelnen an? Und wo hört sie auf? Rechtfertigt die gute Tat einem Fremden gegenüber die Lügen gegenüber dem eigenen Sohn? Wie viel Vertrauen ist gut? Wie viel Misstrauen geboten? Wie menschlich sind die Gesetze zu Einwanderung?

"Man müsse es auf legale Weise tun", hört Rose immer wieder. "Legale Weise, für Rose hört sich das allmählich an wie egale Weise." Sie wird die Bilder jener Nacht nicht mehr los, die der Lebenden und der Toten, sie fühlt sich verantwortlich für diesen jungen Mann, Younès, der nun mit dem Parker und dem Handy ihres Sohnes unterwegs ist in eine ungewisse Zukunft. Sie ist keine Heilige, ist alles andere als perfekt.

Die Schriftstellerin Marie Darrieussecq.
Die Schriftstellerin Marie Darrieussecq. © picture alliance / dpa

Sie hat sich das nicht so vorgestellt, wollte nie diese merkwürdige Verbindung mit einem Fremden: "Man steckte schon tief drin im dritten Jahrtausend, das sie als Kind zum Träumen brachte. Doch in keinem Traum, keinem einzigen, sprach sie mit einem Jungen im Alter ihres Sohnes, der aus Niger ausgewandert und in einem provisorischen Zeltlager verunglückt war, auf einem tragbaren Bildschirm, der auch als Telefon diente, das Ganze in einem Hybridauto."

Auch Rose weiß keine Antwort auf die Frage, wie wir leben sollen mit all dem Unheil und der Ungerechtigkeit in der Welt. Und darin liegt der Sog dieses Buches: Es hat keine Lösung, erhebt nicht den Zeigefinger. Der Autorin gelingt es vielmehr, eine individuelle Geschichte zu erzählen, die doch die eines Landes wenn nicht eines Kontinents ist. Genau beobachtet und immer wieder anders als erwartet.

Marie Darrieussecq: "Das Meer von unten" (Secession, 280 S., 25 Euro. Am 10. Juni ist die Autorin im Literaturhaus zu Gast, die Schauspielerin Wiebke Puls liest auf dem Roman

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