"Lyrisches Tagebuch": Sänger Gerhaher über den Geist eines Kunstwerks

München. Der Moment, wo bei einem Liederabend die Singstimme in die erwartungsvolle Stille einsetzt: Was geht da wohl bei einer Sängerin oder einem Sänger vor? Nach einer alten Witztradition würde man, speziell für Tenöre, sagen: Nichts.
Das stimmt natürlich nicht. Doch dass dem ersten Ton eine derartig tiefgründige, skrupulöse, dabei höchst inspirierte Gedankenarbeit vorausgegangen ist, wie sie Christian Gerhaher in diesem Buch dokumentiert, ist wohl eine Ausnahme.
Brilliante Analyse, verständlich geschrieben
Der Titel ist sogar leicht irreführend, aber so, dass man positivst überrascht wird. Ein echtes Tagebuch würde sich im Falle Gerhahers wahrscheinlich so lesen wie das der meisten allseits gefragten Musikerpersönlichkeiten, nämlich ermüdend: viel üben, viel reisen, ein glanzvoller Auftritt, danach Hotelzimmer. Eine solche Dokumentation, garniert mit ein paar Anekdoten, darf man hier nicht erwarten.
Zwar leitet der gebürtige Straubinger das Buch charmant ein mit einer Erzählung aus seiner Jugend im Gäuboden, und auch zwischendurch lernt man ihn ein wenig kennen, erfährt vor allem, wie bescheiden er gegenüber der Kunst auftritt, die er doch so einzigartig beherrscht.
Doch der unschätzbare Wert dieses Buches ist, dass Christian Gerhaher offenbart, was er in gut 22 Jahren über die von ihm gesungenen Werke gelernt hat. Und das geht an die Substanz. Zur brillanten Analyse, die dennoch stets für Leute verständlich bleibt, die nicht vom Fach sind, kommt die Erfahrung des Sängers hinzu, die einzigartige Einsichten garantiert.
Über das Verhältnis von Sprache und Musik
Wir lernen etwa, dass es im ersten Liederzyklus überhaupt, "An die ferne Geliebte" von Ludwig van Beethoven, nicht viel bringt, die vom Komponisten notierten Längen der Töne genau auszuhalten - man hört die Unterschiede gar nicht, weil die "Konsonanten oder Konsonantenketten" der Strophentexte ja unterschiedlich lang klingen.
Ähnlich Erhellendes teilt Gerhaher über Mozart, Schubert, Mahler sowie seine Zusammenarbeit mit Heinz Holliger und Wolfgang Rihm mit. Im Mittelpunkt jedoch steht der von ihm und seinem ständigen Pianisten Gerold Huber heiß geliebte Robert Schumann.
Bedenkenswert ist, was Gerhaher zum Verhältnis von Sprache und Musik schreibt: Schumann "lässt gerne Gedicht und Lied, statt sie zur Kongruenz zu zwingen, ein wenig nebeneinanderstehen". Deshalb ist "eine interpretatorische Eindeutigkeit nicht oder nur mit Einbußen" möglich. So erkennt der Sänger einen wesentlichen Umstand, der sonst der philosophischen Ästhetik vorbehalten bleibt: "Gerade größtmögliche Buchstabentreue kann einen Nachschöpfer paradoxerweise auch am klanglichen Kern eines Werkes vorbeiführen".
Ein Sänger mit philosophischem Gespür
Fichte und Schiller haben das vor bald 250 Jahren als den Unterschied zwischen Geist und Buchstabe gefasst. Um aber diesen Geist zu verstehen, der in einem Werk lebt - nicht im toten Buchstaben -, braucht man Intelligenz, Fantasie, nicht zuletzt den Mut, ihn mit künstlerischer Freiheit zu verwirklichen.
Diesen Mut hat Christian Gerhaher, der sich nie auf die schiere Schönheit seiner Stimme verlassen hat, auch wenn gerade dieser Sänger sich ständig selbst in Frage stellt, sich sorgt, falsche Schlüsse zu ziehen oder komplizierte künstlerische Wahrheiten zu vereinfachen. Umso wohltuender ist es, wenn er nach ernster Selbstprüfung dann Stellung bezieht, etwa gegen eine verkürzende Auffassung der "Winterreise" von Schubert als ironisch.
Übrigens erscheint er hier mitnichten, wie er sich gleich selbst vorwirft, als ein "Gottsched oder Hanslick des Singens", sprich: ein Prinzipienreiter, sondern als jemand, der mit hellem Verstand und feinstem Gehör dem Geheimnis der Musik nachspürt: kurz, ein echter Philosoph des Liedes. Christian Gerhaher - ein singender Kant!
Christian Gerhaher: "Lyrisches Tagebuch. Lieder von Franz Schubert bis Wolfgang Rihm", (C.H. Beck, 334 Seiten, 25 Euro). Gerhaher stellt das Buch heute um 20 Uhr im Gespräch mit Eleonore Büning im Literaturhaus vor. Livestream (5 Euro) unter literaturhaus-muenchen.de