Literaturnobelpreisträger Gurnah: Schnittmengen für das Zusammenleben

Der tansanisch-britische Schriftsteller Abdulrazak Gurnah erhält den diesjährigen Literaturnobelpreis.
von  Manfred Loimeier
Der Schriftsteller Abdulrazak Gurnah.
Der Schriftsteller Abdulrazak Gurnah. © Steve Parsons/PA Wire/dpa

Er ist ein Autor der internationalen Begegnung, einer, der in seinen Roman am Beispiel persönlicher Beziehungen schildert, was es bedeutet, aus verschiedenen Kulturen zu kommen. Und dieses Aufeinandertreffen unterschiedlicher Regionen und auseinanderklaffender Erfahrungs- und Erwartungshorizonte ist es auch, was sich als roter Faden, als das große literarische Thema durch die Mehrheit von Abdulrazak Gurnahs Büchern zieht.

Gurnah, 1948 auf Sansibar geboren, kennt das Gefühl, eine Heimat verlassen zu müssen, die fremd geworden ist, und eine neue Heimat finden zu müssen, die sich zunächst dagegen sträubt. Gurnah hat diese neue Heimat für sich in Großbritannien gefunden, wo er an der Universität Kent bis zu seiner Emeritierung als Professor englischsprachige Literaturen lehrte.

Nobelpreis für Gurnah ist ebenso überraschend wie positiv

An diesen Schriftsteller geht der diesjährige Nobelpreis für Literatur - das ist eine ebenso überraschende wie positive Nachricht. Zwar schwang Afrika als möglicher Zielkontinent für die Preisverleihung in Stockholm schon seit langem mit, aber den seit Jahrzehnten in Großbritannien lebenden Autor hatte wohl niemand auf der Favoritenliste. Und zwar auch deshalb, weil Gurnah auf Literaturpodien wie in politischen Diskussion immer mit Bedacht sprach, eher abwägend und zögerlich, wenngleich klar in der Position: dass Europas herablassender Blick auf Afrika verwerflich ist und wenig förderlich für ein gelingendes Auskommen miteinander.

Gurnah geht es in seinen Büchern nie um das Trennende, und wenn er darin kulturelle Unterschiede herausarbeitet, dann mit dem Ziel, wie diese zu überwinden sind. Insofern ist die Auszeichnung eines versöhnlichen Autors, wie Gurnah einer ist, typisch für die Stockholmer Akademie, die in der Regel das Kontroverse scheut und das Verknüpfende sucht.

"Memory of Departure" heißt sinnigerweise sein Debütroman aus dem Jahr 1987, der einen Abschied von der Familie und gar von einer Lebensweise schildert. Ebenso vielsagend klingt der Titel des zweiten Romans, "Pilgrims Way", 2004 als "Schwarz auf Weiß" auch auf Deutsch erschienen. Dessen Protagonist weist etliche autobiografische Züge auf, allein schon darin, dass Daud, die Hauptfigur, wie Gurnah einst vor Übergriffen auf arabisch- und indischstämmige Menschen auf Sansibar aus Tansania fliehen musste.

Aus Gurnahs Werk ragt ein Titel besonders heraus: Es ist ein schon älteres seiner Bücher, "Das verlorene Paradies", 1994 als "Paradise" erschienen. Schwingt im deutschsprachigen Titel der Verlust mit, enthält der englischsprachige Originaltitel das positiv beschwörende, und in der Tat ist "Das verlorene Paradies" ein ganz bezaubernder Roman.

Literaturnobelpreis für "Das verlorene Paradies"

Gurnah beschreibt darin sehr visuell und ruhig das Leben im östlichen Afrika um die Wende zum 20. Jahrhundert, als noch Karawanen auf den Handelswegen durch die Sahara verkehrten, als sich arabische, indische und afrikanische Bevölkerungsgruppen an der Küste Ostafrikas begegneten und Europäer begannen, ihren Machtanspruch zu behaupten.

Der Indische Ozean, die See, ist darin als Begegnungsraum zwischen Ostafrika und Indien dargestellt, als Handelsdrehscheibe zwischen Arabien und Asien, auf der die Seeleute die jahreszeitlich verschiedenen Driften des Ozeans nutzen, um sich mit ihren Schiffen und Waren von der einen Küste zur anderen tragen zu lassen.

Und während die Menschen in Europa die Meere gewöhnlich als Hürden, als Grenzregionen betrachten, sind diese noch so tiefen Gewässer in Gurnahs Roman "Das verlorene Paradies" das Verbindende, wo verschiedene Lebensformen nicht nur aufeinandertreffen, sondern auch ineinander verschwimmen und sich vermischen. Und so ist Gurnah ein Autor, der zwar viel über Getrenntheit schreibt, dabei im Grunde aber auslotet, wo gemeinsame Schnittmengen das Fundament dafür bieten, ein Zusammenleben zu ermöglichen.

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