Interview

Kolumnistin Kimberly Hagen nach dem Schicksalsschlag: "Trauer darf kein Tabu sein!"

Von der Powerfrau zur Trauerfrau: Kolumnistin Kimberly Hagen wird mit 41 Jahren Witwe. In der AZ spricht sie über die (Ohn)Macht des Schmerzes, Selbstheilung und ihr neues Ich.
von  Anton Leiss-Huber
Am 10. April 2022 um 2.58 Uhr ändert sich ihr Leben für immer: Kimberlys Mann Clemens Hagen stirbt völlig unerwartet mit 59 Jahren.
Am 10. April 2022 um 2.58 Uhr ändert sich ihr Leben für immer: Kimberlys Mann Clemens Hagen stirbt völlig unerwartet mit 59 Jahren. © privat

Kolumnistin Kimberly Hagen verliert im April 2022 völlig überraschend ihren Ehemann Clemens Hagen († 59), der für die AZ lange Jahre als Politik-Vize gearbeitet hat. Mit 41 wird sie in eine Rolle katapultiert, die sie niemals haben wollte – sie wird Witwe. Von der Powerfrau zur Trauerfrau. Am Mittwoch erscheint ihr Trauertagebuch: "Tränen, Liebe, Lebensgier" (Langen Müller, 384 S., 22 Euro).

Darin schreibt Hagen über ihren Umgang mit der Trauer. Zuerst vollkommen am Boden zerstört, steht sie wieder auf. Offen und sehr persönlich schildert sie den schrecklichen, bizarren und auch zum Schreien komischen Wahnsinn zwischen Grab-Shopping, Beileids-Tsunami, Zusammenbruch, Selbstheilung und einer Armada an neuen Männern, die plötzlich auftauchen. Es ist ein Buch, das tief berührt, Mut macht und zeigt, wie viel wacher, reifer und kraftvoller man nach schlimmsten Krisen werden kann.

Darum verschlimmern Beileids-Bekundungen das Leid nur

AZ: Liebe Frau Hagen, Trauer gilt als still, intim, zurückgezogen – warum machen Sie Ihre Trauer mit Ihrem Buch so öffentlich?
KIMBERLY HAGEN: Trauer muss raus aus der Tabuzone. Denn Trauer betrifft irgendwann leider jeden Menschen, der liebt. Als ich meinen absoluten Tiefpunkt hatte, zitternd und herzrasend auf dem Boden in meiner Wohnung lag, Angst hatte, in den Supermarkt zu gehen, und dachte, die Wände meiner Wohnung würden mich erdrücken, als mich die (Ohn)Macht des Schmerzes mit voller Wucht traf und ich dachte, ich würde jetzt auch sterben – da hätte ich mir ein Buch wie dieses gewünscht. Kein "Alles wird gut"-Ratgeber, sondern ein Buch, das mich an die Hand nimmt, mir zeigt, dass ich nicht alleine bin – und mir klarmacht, dass es ganz normal ist, wie ich mich gerade fühle. Und dass es sogar sehr gut ist. Denn Schwäche, das musste ich mühsam lernen, ist wahre Stärke und Start der Selbstheilung. Erst, wenn es einem – Verzeihung – richtig beschissen geht, kann es einem irgendwann ein bisschen bessergehen.

Kimberly Hagen schreibt: "Plözlich habe ich wieder Lust auf Geschmack. Ich werde Löwenzahn pflücken und Löwin-Pasta kochen."
Kimberly Hagen schreibt: "Plözlich habe ich wieder Lust auf Geschmack. Ich werde Löwenzahn pflücken und Löwin-Pasta kochen." © Jillian Hoppe

Wir sagen bewusst nicht, "Mein Beileid". Was ist für Sie so schlimm an dieser Floskel?
Danke. Ja, ich habe tatsächlich eine Beileids-Allergie entwickelt. Es gab kein "Servus" oder "Hallo" mehr. "Beileid" wurde zu meinem zweiten Namen. Ich hieß nur noch: "Beileid Kimberly". Die meisten Menschen meinen es superlieb oder wissen es nicht besser, aber "Beileid" bringt einen nicht weiter, wenn man eh schon irre leidet. Es verschlimmert das Leid nur. Ich finde "Mein Mitgefühl" viel feinfühliger.

Waldbaden oder Abtauchen im kalten Bach: Die Heilungskräfte der Natur

Wie sieht es jetzt in Ihrem Leben aus? Hätten Sie sich das vor einem Jahr vorstellen können?
Ich hatte keine Ahnung vom Tod. Und somit auch nicht vom Leben. Ich musste begreifen, dass es sinnlos ist, am alten Leben und an meinem alten Ich festhalten zu wollen. Denn das gibt's nicht mehr, egal, wie sehr man es sich zurückwünscht. Wenn der Tod plötzlich und unerwartet eintritt, ist auf das Leben erstmal kein Verlass mehr. Ich war mit Anfang 40 hilflos wie ein Baby, musste Schritt für Schritt in mein neues Leben finden, mein neues Ich kennen- und auch lieben lernen.

Wie ist Ihnen das gelungen?
Meine neue Stärke ist das Ergebnis von kleinen und größeren Veränderungen in meinem Leben. Die Zeit heilt alle Wunden? Totaler Schmarrn! Man kann das nicht der Zeit überlassen. Man muss das selbst in die Hand nehmen. Ich musste mein von Trauer, Schmerz und Stress überreiztes Nervensystem beruhigen, mein Cortisol-Level runterschrauben, alle negativen Empfindungen nach und nach mit positiven Gefühlen überschreiben. Das geht nicht über Nacht. Aber es geht. Heilung durch Selbstheilung. Besser, gesünder und nachhaltiger, als irgendwelche Psychopillen zu schlucken. Das machen übrigens die meisten Menschen, die trauern – sie betäuben sich.

Der Schmerz ist für Sekunden wie ausgelöscht: Kimberly Hagen taucht täglich im Bach ab - und spürt Leichtigkeit.
Der Schmerz ist für Sekunden wie ausgelöscht: Kimberly Hagen taucht täglich im Bach ab - und spürt Leichtigkeit. © Jillian Hoppe

Was hat Ihnen geholfen?
Neben meiner Familie und meinen Herzensmenschen, die unerschütterlich für mich da waren, als ich nur ein Trauer-Zombie und ein Dauerhäufchen Elend war, das: Ich habe meinen Koffein-Konsum komplett eingestellt, trinke abends Bier statt Wein, weil Hopfen beruhigt. Ich esse Unmengen an Bananen und Nüssen, weil sie den Serotoninpegel heben – und ich habe die Kraft in der Natur gefunden. Beim Waldbaden oder Abtauchen in kalten Bächen. Diese Leichtigkeit im Wasser hat mir täglich extrem geholfen. Endlich mal etwas zu spüren, das nicht nur Schmerz ist. Und ich musste lernen, wieder Glücksgefühle – lachen, tanzen, flirten, Liebe und auch Sex – zuzulassen und auch zu genießen.

Waldbaden: Kimberly Hagen nennt die Spaziergänge im Wald "die besten Therapiestunden meines Lebens". Denn: "Die Natur schenkt Kraft und fragt mich nicht, wie es mir geht."
Waldbaden: Kimberly Hagen nennt die Spaziergänge im Wald "die besten Therapiestunden meines Lebens". Denn: "Die Natur schenkt Kraft und fragt mich nicht, wie es mir geht." © Jillian Hoppe

Kolumnistin Kimberly Hagen glaubt heute nicht mehr an Zufälle

Pfarrer Rainer Maria Schießler hat Ihr Vorwort verfasst. Was hat er Ihnen mitgegeben?
Dass es unter der Erde überall dunkel ist – und die Friedhofsauswahl daher gar nicht so wichtig ist. Im Ernst: Ich rief Rainer Maria zwei Tage nach dem Tod meines Mannes an und fragte ihn, wie man bitte schön, mit dem Allerfürchterlichsten umgehen soll, ohne daran zu zerbrechen. Seine Antwort: "Kimberly, du musst lernen, mit dem Schmerz zu leben. Du musst das richtig trainieren, so wie ein Fußballspieler seine Fitness trainiert. Jeden Tag aufs Neue." Was ich damals nicht ahnte: "Training" war komplett untertrieben. Als trauernder Mensch wird man in das härteste, gnadenloseste Bootcamp aller Zeiten geschickt. Denn nichts ist härter als Trauer.

Ihr Buch-Cover ziert eine Libelle. Warum?
Als ich meine Seerapie-Stunden am Starnberger See hatte, stundenlang aufs Wasser schaute und probierte, an irgendwas zu denken, was nix mit dem Tod zu tun hat, landeten ständig Libellen auf meinem Kopf. Ein guter Freund hatte mir mal etwas von Krafttieren erzählt. Als ich ihn daraufhin nach der Bedeutung der Libelle fragte, schickte er mir den Text aus seinem Krafttierbuch. Die Kurzform: Die Libelle will einem klarmachen, dass man – auch wenn man sich gerade von der Welt abgeschnitten fühlt - von einer höheren Macht gesehen und grenzenlos geliebt wird. Sie bringt einem also Liebe. In der Zeit, wo ich meine Liebe verloren hatte und mein Herz zerbrochen war, hat mich das tief berührt. Die Libelle wurde so nicht zu meinem Bodyguard, sondern zu meinem Soulguard.

Überall im Handel: "Tränen, Liebe, Lebensgier - Mein Trauertagebuch" (Langen Müller, 384 Seiten, 22 Euro).
Überall im Handel: "Tränen, Liebe, Lebensgier - Mein Trauertagebuch" (Langen Müller, 384 Seiten, 22 Euro). © Langen Müller

Glauben Sie an Verbindungen zum Jenseits?
Früher hätte ich jetzt nur gelächelt. Früher hatte ich keine Ahnung. Ja, und wie ich daran glaube – zumal mir mein Mann mit der Holzhammer-Methode sehr oft Zeichen sendet, die es nicht zu übersehen geht. Ob es in Momenten, wo ich über ihn rede, eine explodierte Küchenlampe ist, die auf einmal losflackert – oder der Stromausfall in der ganzen Straße zu meinem Geburtstag, als wir über Clemens sprachen. Vielleicht sind das alles Zufälle. Aber ich glaube heute nicht mehr an Zufälle.

Kimberly Hagens Rat: "Wenn man in ein Trauerloch fällt, den Tränen freien Lauf lassen"

Warum ist Lachen bei der Bewältigung von Trauer wichtig?
Weil man in Zeiten von Millionen von Tränen unendlich dankbar ist, mal lachen zu können. Das ist wie eine Mini-Pause vom Leid. Als mich kurz nach dem Tod eine millionenschwere Promi-Lady anrief und ins Telefon schrie: "Kimberly, mir ist auch etwas ganz Schlimmes passiert. Ich habe fünf Kilo zugenommen!" – da war ich erst entsetzt und schockiert. Doch wenig später habe ich darüber sehr gelacht.

Was möchten Sie Menschen mit auf den Weg geben, die sich in einer ähnlichen Situation befinden?
Als trauernder Mensch fühlt man sich von der Welt, die sich einfach so weiterdreht, als wäre nichts passiert, entrückt. Ich kann nur sagen, dass sich jeder bestärkt fühlen – und mit sich selbst Geduld haben sollte. Und sich niemals schämen sollte, alle Gefühle rauszulassen. Trauer und Schmerz werden einen nicht vernichten. Sie werden einen stärker machen. Und wenn man mal wieder in ein Trauerloch fällt, nicht künstlich zusammenreißen, sondern den Tränen freien Lauf lassen. Wir sollten alle mehr weinen. Und das nicht nur im Fußballstadion. Ich unterdrücke keine Gefühle mehr – wenn ich doch mal im Café losheulen muss, dann ist das eben so. Ich bin jetzt so.

Kimberly Hagen heute: "Trauer und Schmerz haben mich nicht vernichtet. Sie haben mich stärker gemacht."
Kimberly Hagen heute: "Trauer und Schmerz haben mich nicht vernichtet. Sie haben mich stärker gemacht." © Anton Leiss-Huber

Dass Pink ihre Lieblingsfarbe ist, ist kein Geheimnis. Deshalb die abschließende Frage: Sehen Sie sich eher als Mater Dolorosa, also als Leidenssymbol? Oder womöglich doch eher als Mater Colorosa?
Alles außer Schwarz. Ich habe den Witwen-Dresscode nie befolgt, habe zumindest modisch gegen die Dunkelheit in mir drinnen angekämpft. Die meiste Zeit in meiner Hardcore-Trauerphase habe ich ja eh im Bikini verbracht – einem strahlend grünen und knallgelben.

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