Königin voller Heldenmut: Vor 100 Jahren starb Sisis Schwester Marie von Neapel

Die "Heldin von Gaeta" war eine bayerische Herzogin aus einer Nebenlinie der Wittelsbacher
von  Christian Sepp
Marie von Neapel und König Francesco II.
Marie von Neapel und König Francesco II. © imago/Artokoloro

In einer Schlüsselszene des fünften, 1923 erschienenen Bands von "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit" erfährt die fiktive Figur des Palamede de Charlus eine ultimative Demütigung: Anlässlich einer Abendgesellschaft wird der Baron öffentlich geoutet.

An dieser Stelle lässt der Schriftsteller Marcel Proust eine historische Persönlichkeit auftreten: Die als Stargast anwesende Königin Marie von Neapel springt dem Baron bei und bietet ihm demonstrativ ihren Arm an: "Sie wissen, dass er vormals in Gaeta die Kanaille in Schach gehalten hat. Er wird jetzt auch für Sie ein Bollwerk sein." Als das Buch erscheint, ist Marie von Neapel bereits eine hochbetagte Dame, aber ihr Ruf als ungewöhnlich mutige Frau ist noch lebendig.

Die Geschwister der Kaiserin Elisabeth: Marie ist ganz rechts außen zu
sehen
Die Geschwister der Kaiserin Elisabeth: Marie ist ganz rechts außen zu sehen © picture alliance / dpa-tmn

Wir schreiben den 4. Oktober des Jahres 1841. Die hochschwangere Herzogin Ludovika in Bayern ist unterwegs im weitläufigen Park des Schlosses Possenhofen am Starnberger See, als bei ihr plötzlich die Wehen einsetzen. Gerade noch rechtzeitig schafft man es in den Salon, wo die Herzogin ein Mädchen zur Welt bringt. Ludovika und ihr Mann, Herzog Max in Bayern, haben bereits mehrere Kinder, zwei Jungen und zwei Mädchen, doch keines der Kinder hatte es bisher so eilig gehabt wie die kleine Herzogin, die auf den Namen Marie Sophie Amalie getauft wird.

Als Mitglieder einer Seitenlinie der Wittelsbacher haben Herzog Max und Herzogin Ludovika kaum öffentliche Pflichten, das Familienleben spielt sich zwischen dem prächtigen Herzog-Max-Palais in München und dem Landsitz Possenhofen ab. Das ändert sich grundlegend, als sich im August 1853 auf einer Familienfeier in Ischl der österreichische Kaiser Franz Joseph I. in eine Tochter des Hauses verliebt - die damals 15-jährige Elisabeth. Der Verlobung in Ischl folgt acht Monate später eine prachtvolle Hochzeit in Wien, und aus der jungen Herzogin, die in der Familie "Sisi" genannt wird, wird Kaiserin Elisabeth von Österreich.

Als die Schwester das Elternhaus verlässt ist Marie zwölf Jahre alt. Durch die verwandtschaftliche Nähe zum österreichischen Kaiserhaus werden nun Sisis Schwestern als Heiratskandidatinnen für andere europäische Herrscherhäuser interessant. So fasst man im süditalienischen Königreich beider Sizilien - umgangssprachlich Neapel-Sizilien genannt - den Entschluss, den dortigen Thronerben mit Herzogin Marie in Bayern zu verheiraten. Denn der König von Neapel-Sizilien und der Kaiser von Österreich haben gemeinsame Feinde: Franz Joseph I. hat Besitzungen in Oberitalien und diese werden, ebenso wie Neapel, von der italienischen Einigungsbewegung bedroht, dem Risorgimento. Dessen Ziel ist es, die einzelnen Staaten in Italien zu zerschlagen und ein Königreich zu formen. An der Spitze dieser Bewegung steht Sardinien-Piemont.

Herzogin Marie in Bayern.
Herzogin Marie in Bayern. © imago images/Heinz Gebhardt

Als Problem bei den Heiratsverhandlungen erweist sich die Distanz zwischen München und Neapel. Es geht das Gerücht um, der sehr fromme junge Prinz sei nicht besonders attraktiv. Herzogin Ludovika in Bayern wird schließlich mit einem Porträt abgespeist, das nach langer Wartezeit in Possenhofen eintrifft. Nüchtern kommentiert die Herzogin: "Das Portrait des Kronprinzen ist angekommen, schön kann er nicht seyn, wenn es ähnlich ist; aber es ist sehr schlecht gemacht, so alt kann er keinesfalls aussehen."

Marie muss einen Mann heiraten, den sie noch nie gesehen hat. Am 8. Januar 1859 findet in der Allerheiligenhofkirche in München eine Trauung "per procurationem" statt, also in Abwesenheit des Ehemanns. Anschließend reist Marie nach Süditalien, wo einen Tag nach ihrer Ankunft eine zweite Hochzeit stattfindet.

Sie lächelt beim Pfeifen der Kugeln

Der Kronprinz von Neapel kann sich glücklich schätzen: Die politisch motivierte Heirat führt ihm eine attraktive Frau an seine Seite. Marie hat regelmäßige Gesichtszüge, schwarzes, langes Haar und dunkle, mandelförmig geschnittene Augen. Der Start in der neuen Heimat wird schwer, wenige Monate nach ihrer Ankunft stirbt ihr Schwiegervater und ihr Mann besteigt als Francesco II. den Thron.

Es lastet viel Verantwortung auf dem jungen Herrscherpaar, Marie ist gerade einmal 19 Jahre alt, ihr Mann nur vier Jahre älter. Bei der Thronbesteigung des Paares im Mai 1859 ist die italienische Einigung im vollen Gang. Sardinien-Piemont besiegt Österreich in der blutigen Schlacht von Solferino. Franz Joseph I. büßt einen Teil seiner italienischen Besitzungen ein. Das junge Paar ist gerade einmal ein Jahr auf dem Thron, da richtet sich der Fokus auf Neapel.

Das Kastell von Gaeta.
Das Kastell von Gaeta. © IMAGO/Pond5 Images

Der Freiheitskämpfer Giuseppe Garibaldi landet mit Freiwilligen auf Sizilien - und bringt in kurzer Zeit das Königreich zu Fall. Als sich seine Truppen Neapel nähern, flüchten Franceso II. und Marie in die Festung von Gaeta, die den legendären Ruf genießt, uneinnehmbar zu sein. Von dort aus schickt der neapolitanische König ungehört bleibende Hilferufe nach ganz Europa.

Franz Joseph I., auf dessen Unterstützung man gesetzt hatte, sind durch die Niederlage bei Solferino die Hände gebunden. Und so beginnen die Truppen von Sardinien-Piemont mit der Belagerung Gaetas. Francesco II. lernt seine Frau von einer neuen Seite kennen - sie ist die einzige Frau seiner Familie, die in der umkämpften Festung ausharrt. Ein französischer Journalist hält fest: "Die reizende Königin beider Sicilien hat Heldenmuth in den Adern. Sie ging heute auf den Batterien spazieren, die Kugeln schlugen von Zeit zu Zeit in ihre Nähe; sie lächelte bei ihrem Pfeifen."

Eine außereheliche Affäre

Doch aller Heldenmut ist angesichts der Übermacht aussichtslos: Zuerst werden die Lebensmittel knapp, dann bricht Typhus aus. Ein Pulvermagazin explodiert und beschädigt die Festung. Am 13. Februar 1861 unterschreibt Francesco II. schließlich die Kapitulation. Das von seinem Thron vertriebene Paar findet Schutz beim Papst in Rom. Wenige Wochen nach dem Fall Gaetas wird der König von Sardinien-Piemont zum ersten König von Italien ausgerufen. Doch Maries Mut bei der Verteidigung bleibt bestehen - quer durch Europa feiert man die "Heldin von Gaeta".

Die junge und attraktive Königin langweilt sich im Exil in Rom und lässt sich unvorsichtigerweise auf ein amouröses Abenteuer ein. Ungefähr ein Jahr nach ihrer Ankunft stellt sie fest, dass sie schwanger ist. Das Problem dabei: der König hatte die Ehe aufgrund von körperlichen Einschränkungen bisher nicht vollziehen können.

Die damals 15-jährige bayerische Herzogin, genannt Sisi, auf einem Pferd vor dem Schloss ihrer Eltern in Possenhofen.
Die damals 15-jährige bayerische Herzogin, genannt Sisi, auf einem Pferd vor dem Schloss ihrer Eltern in Possenhofen. © picture alliance / Dorofotograf2/Dorotheum/dpa

Überstürzt reist Marie aus Rom ab und flüchtet sich in ihre Heimat. Vor dem Familienrat, zu dem auch der Kaiser und die Kaiserin von Österreich gehören, beichtet sie nicht nur ihre Schwangerschaft sondern auch, dass sie nicht zu Francesco zurückkehren möchte. Mutter Ludovika organisiert ein familieninternes Netzwerk, so dass Marie schließlich in einem Kloster in Augsburg Unterschlupf findet, wo sie im November 1862 ein Kind zur Welt bringt. Die Verschleierungstaktik ist so ausgefeilt, dass wir bis heute nicht zweifelsfrei sagen können, was genau passiert ist.

Letztendlich kann die Familie Marie davon überzeugen, zu Francesco zurückzukehren - denn der ist bereit, den Fehltritt seiner Frau zu verzeihen. Und zeigt auch guten Willen, indem er sich einer Operation unterzieht, um die Ehe vollziehen zu können. Die beiden werden sogar Eltern einer Tochter, zu deren Taufe Kaiserin Elisabeth von Österreich höchstpersönlich nach Rom reist.

Exil in Paris

Doch dem Mädchen sind nur wenige Monate auf Erden vergönnt, und auch ihren Zufluchtsort verlieren Francesco und Marie. Im Jahre 1870 nutzen italienische Truppen die internationale Situation und besetzen den Kirchenstaat. Da Francesco nie auf seine Thronansprüche verzichtet hat, ist für das Paar in Rom nun kein Bleiben mehr.

Die Zeit des Exils außerhalb von Italien teilt das ehemalige Königspaar zwischen Bayern und Paris auf, wo man sich im mondänen Vorort Saint-Mandé ein Haus leistet. Marie hat ein Faible für den Reitsport, ein Hobby, das sie mit Sisi teilt, doch die beiden Schwestern zerstreiten sich und finden nicht mehr zueinander. 1894 stirbt Francesco II. im Alter von 59 Jahren, vier Jahre später wird Sisi von einem Anarchisten in Genf ermordet.

Marie erlebt 1918 in München sogar noch das Ende der Monarchie in Bayern mit. Auch im Alter noch agil stürzt sie sich in das revolutionäre Geschehen dieser Tage. Der mit ihr befreundete Maler Gustave Schneeli erinnert sich, dass die Königin von Neapel an einem Tag im November 1918 nach einem Spaziergang durch München in seiner Werkstatt aufgetaucht sei. Die alte Dame habe ausgerufen: "Was für ein schöner Tag!". Als der Maler ihr beipflichtet, dass das Wetter für die Jahreszeit ungewöhnlich schön sei, habe die Königin ihn unterbrochen: "Aber nein, nein, lieber Freund - ich spreche nicht von der Zeit, ich spreche von den Ereignissen. Wenn Sie wüssten, wie mich das verjüngt. Ich bin wieder zwanzig!".

Nach einem bewegten Leben schließt Königin Marie von Neapel am 19. Januar 1925 im Alter von 83 Jahren in München für immer ihre Augen.

Der Autor dieses Beitrags veröffentlichte 2021 das Buch "Ludovika: Sisis Mutter und ihr Jahrhundert" (August Dreesbach Verlag, 496 S., 36 Euro)

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