Kloake und Trinkwasserquelle

Ein neues Buch erzählt die Geschichte des Tibers
von  Roberta De Righi
Der Wasserstand des Tibers sinkt, und die Stadt steht vor einem Notstand aufgrund der anhaltenden Trockenheit und den heißen Temperaturen.
Der Wasserstand des Tibers sinkt, und die Stadt steht vor einem Notstand aufgrund der anhaltenden Trockenheit und den heißen Temperaturen. © picture alliance/dpa/LaPresse via ZUMA Press

An seinem Ufer wurden Romulus und Remus gefunden. Bei der Milvischen Brücke siegte Konstantin im Zeichen des Kreuzes. Pasolinis Vorstadt-Strizzi "Accattone" lebte und starb auf den Brücken, Ingeborg Bachmann in ihrer brennenden Wohnung unweit des Flusses: Seit Jahrtausenden war und ist der Tiber ein Ort der Mythen, Schauplatz für Dramen, Quell an Geschichten - und Transportweg für Lebensmittel und Waren aller Art: Getreide, Gewürze, Baustoffe, die vom Seehafen in Ostia den Fluss hoch getreidelt wurden: "Ohne den Tiber wäre Rom verhungert."


Seine Bedeutung für die Stadt fasst Birgit Schönau in ihrem profunden Band "Die Geheimnisse des Tibers. Rom und sein ewiger Fluss" anschaulich und pointiert bis in die Gegenwart zusammen. Der Fluss war die Lebensader seit Roms sagenhafter Gründung 753 v. Chr. Auch wenn sich geltungssüchtige Patrizier lieber Muränen aus Sizilien liefern ließen, kamen stets Aale und Hechte aus dem Tiber auf den Tisch. Im Fluss klapperten zudem seit der Antike die Getreidemühlen - zwischen 1600 und 1850 waren es bis zu 28. Die Autorin, langjährige Rom-Korrespondentin der "Zeit", destilliert knapp drei Jahrtausende römische Geschichte aus dem Flusswasser. Schönau seiht aus den Quellen und einer eindrucksvollen Lektüreliste keinen Topf halbgare Folklore-Suppe, sondern serviert, angereichert mit Ergebnissen eigener Recherchen, süffig aufbereitete Kulturgeschichte, die viele Jahrhunderte als Weltgeschichte galt.


Ohne den Tiber wäre Rom auch verdurstet: Er diente als Trinkwasserquelle und Kloake zugleich. Im Mittelalter war die Infrastruktur wie die Prachtbauten der Antike ruinös und verrottet. Man trank wieder Flusswasser. "Das Wasser, das ich trinke, soll weder den Ponte Sisto noch irgendeine andere Brücke gesehen haben", galt als Motto des Leibarztes von Papst Sixtus V.. Die so genannten "Acquaroli" schöpften das Wasser oberhalb der Engelsbrücke und verkauften es.

Jahrhunderte zuvor hatte zuletzt Konsul Marcus Agrippa, Freund und Schwiegersohn von Augustus, die von den Etruskern begonnene Cloaca Maxima erweitern und die jüngsten beiden von elf Aquädukten errichten lassen, die Trinkwasser in fast alle Viertel brachten. Die Kloake entsorgte vor allem die Tempel, Thermen und Paläste - und das Abwasser mündete immer im Fluss.

Von rund eine Million Einwohner in der frühen Kaiserzeit über wenige Zehntausend nach der Plünderung durch kaiserliche Truppen, dem Sacco di Roma 1527, bis heute rund 2,7 Millionen: Die Ewige Stadt wuchs und schrumpfte und wuchs. Im Heiligen Jahr 1350 standen den paar zehntausend Römern laut dem Historiker Ferdinand Gregorovius bis zu 1,2 Millionen Pilger gegenüber, die beherbergt und verpflegt werden wollten.

Der Vatikan herrschte jahrhundertelang profan angetrieben von Macht- und Geldgier - und der Fluss bot reichlich Material zur Bereicherung: Brücken- und Hafenzölle, Fischereilizenzen, Mühlenpacht. Der Aufstieg der späteren Papst-Familie Chigi etwa fußt darauf, dass Agostino Chigi im 15. Jahrhundert die Zollstationen an den beiden Stadthäfen Ripa Grande und Ripetta pachtete.


Und es pflastern unzählige Mordopfer den Tibergrund: Der junge Kaiser Elagabal und Papst-Sohn Juan Borgia landeten darin, gequält, geschändet, ermordet. Papst Pius V. wiederum verfolgte erbarmungslos Homosexuelle, Gotteslästerer und Juden und wollte die Prostitution ausmerzen. Als er 1566 verfügte, dass alle Prostituierten aus der Stadt vertrieben werden sollten, trieben im Tiber "plötzlich auffallend viele Frauenleichen", schildert Schönau.

Kirche um Kirche ließen die Päpste errichten und pompös erweitern. Doch obwohl sie seit Gregor dem Großen im 6. Jahrhundert wie die römischen Kaiser den Titel Pontifex maximus, "oberster Brückenbauer" trugen, machte keiner dem Namen Ehre.

Erst Sixtus IV. della Rovere, der geschäftstüchtige Ligurer auf dem Papstthron, nahm nicht nur die Sixtinische Kapelle, sondern auch die dringend benötigte neue Brücke in Angriff, weil er die Kapitale für den erwarteten Pilgeransturm im Heiligen Jahr 1475 ertüchtigen wollte. Heute ist der vierbogige Ponte Sisto mit dem charakteristischen "Occhialone" in der Mitte eine Fußgängerbrücke.


Wer je von hier aus als Sommertourist das trübe Tiberwasser dümpeln sah, kann sich kaum vorstellen, dass dieser Fluss verheerende Wassermassen mit sich führen kann und im Herbst oft halb Rom unter Wasser setzte. Den höchsten je gemessenen Pegelstand erreichte er Weihnachten 1598: 19,56 Meter. "Rom war ein schwarzer, stinkender See. Auf der Piazza Navona stand das Wasser fünf Meter hoch, die Säulen den Pantheons verschwanden bis auf eine Höhe von sechs Meter. Man kann sich ausrechnen, was das für die umliegenden Häuser bedeutete", schreibt die Autorin.

Gezähmt wurde der Fluss erst nach Ende des Kirchenstaats, als Rom 1871 Hauptstadt des Königreiches Italien wurde. Da wurden seine Ufer nach Plänen des Agraringenieurs Raffaele Canevari 18,5 Meter hoch mit Kaimauern versehen.

So mächtig wie die, vom Menschen oft falsch gehändelte, Naturgewalt des Wassers ist nur die menschgemachte Klimakrise: Im Juli 2022, nach 195 Tagen ohne Regen, lag der Pegel auf einem Viertel der Normalhöhe, erinnert sich Schönau. Für das Heilige Jahr 2025 will Rom seinen Fluss immerhin nicht nur optisch auf Vordermann bringen: Mit Parks und Aufforstung vor den Toren der Stadt soll "das Ökosystem Tiber gerettet" werden. Man kann nur hoffen, dass dieses ehrgeizige Projekt nicht auch romtypisch im Fluss der Zeit versandet.

Birgit Schönau: "Die Geheimnisse des Tibers. Rom und sein ewiger Fluss" (C.H. Beck, 319 S., 28 Euro)

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