Ken Follett: "Manchmal muss man kneifen"

In Afrika tummeln sich militärisch bestens ausgerüstete Dschihadisten. Ebenso die CIA sowie europäische Geheimdienste, die einen vernichtenden Schlag gegen die Extremisten planen. Der Tschad nutzt eine amerikanische Drohne für einen Angriff auf den Sudan. China verliert die Kontrolle über Nordkorea, wo nationalistische Rebellen Atomwaffen in die Hände bekommen.
Der austrocknende Tschadsee treibt seine Anrainer in die Migration und in die Hände der Islamisten, die regen Menschenhandel betreiben. Undercover unter den Flüchtlingen: ein amerikanischer Geheimagent, der fürchten muss, enttarnt zu werden. Gleichzeitig wittert Südkorea die Chance einer gewaltsamen Wiedervereinigung mit dem Norden. Und plötzlich ist die Gefahr eines Krieges zwischen den USA und China ganz real.
Ken Follett verlässt in seinem neuen Buch "Never" die historischen Pfade und beschreibt spannend eine zunehmende Eskalation in der Gegenwart. Er verfolgt Handlungsstränge in mehreren Ländern. Denn es ist nun an zwei taffen CIA-Agenten, einem reformbereiten chinesischen Geheimagenten und der US-Präsidentin, das Schlimmste zu verhindern. Sie müssen besonnen handeln - gegen aggressive Gegenspieler im Ausland und in den eigenen Reihen.
Kenn Follett im im Interview über seinen neuen Roman "Never"
AZ: Mr. Follett, Sie haben viele Jahre sehr erfolgreich historische Romane geschrieben, jetzt wechseln Sie das Genre. Hatten Sie alle Geschichten aus vergangenen Epochen erzählt?
KEN FOLLETT: Nein, noch nicht, und ich werde wahrscheinlich wieder historische Romane schreiben. Aber ich glaube, dass ich mich als kreativer Künstler von Zeit zu Zeit neu erfinden muss. Es ist nicht gut, Jahrzehnt um Jahrzehnt das Gleiche zu machen. Ich habe mich mit "Die Säulen der Erde" schon einmal neu erfunden und dachte, das sollte ich wieder tun. Es ist eine neue Herausforderung.
Worin bestand die Herausforderung für Sie?
Hier dreht sich wirklich alles nur um Spannung. Denn damit die Geschichte mit jedem Schritt plausibel ist, muss jede Eskalation glaubwürdig sein. Die technische Schwierigkeit war, eine Spannungsleiter zu kreieren: Mit jedem Schritt nach oben wird es gefährlicher.
Die Idee zu "Never" hatten Sie während der Arbeit an "Sturz der Titanen", als Sie feststellten, dass eigentlich niemand den Ersten Weltkrieg wollte. Er entstand aus einzelnen logischen, moderaten Schritten. Heute ist die Welt viel komplexer als 1914. Macht uns das anfälliger für solch einen Konflikt?
Das glaube ich schon. 1914 kannten die Regenten in Europa einander recht gut, manche waren sogar verwandt. Es hätte also einfacher sein sollen, vorauszuschauen. Und dennoch stolperten sie in einen Krieg, den sie nicht wollten. Jetzt ist alles viel komplizierter, weil wir es nicht nur mit fünf Ländern zu tun haben wie damals. Und wir haben heute vor allem Mühe zu verstehen, was die chinesische Regierung macht. Wir verstehen die Russen, weil wir seit über 70 Jahren mit russischer Aggression leben und den Kalten Krieg ganz erfolgreich gehandhabt haben. Aber jetzt kommt China daher, und wir wissen nicht, was es als nächstes tut. Deshalb ist das eine gefährlichere Situation.
Ken Follett über die Recherche zu "Never": "Ich war einige Male in China und im Weißen Haus"
Sie beschreiben detailliert die Schauplätze, vom Lageraum im Weißen Haus bis zur Geheimdienstzentrale in China, und auch die diplomatischen Strategien. Wie gehen Sie bei der Recherche vor?
Zum einen war ich an einigen Orten. Ich konnte während des Lockdowns zwar nicht reisen, war aber vorher in Afrika und habe die Sahara gesehen. Ich war einige Male in China und im Weißen Haus. Außerdem ist das Internet eine fabelhafte Quelle für einen Schriftsteller. Ich habe auch ein einziges Luftbild vom Hauptquartier des chinesischen Geheimdienstes gefunden. Und wenn man an einem Ort nicht war, nicht hinkommen kann und keine Fotos findet, gibt es Google Earth. Es liefert ein Satellitenfoto von jedem Fleck auf der Erde.
Wofür haben Sie das benutzt?
Zum Beispiel für die Szene, wenn die Tschaderin Kiah und der amerikanische Geheimagent Abdul als Flüchtlinge durch die Sahara fahren. Ich konnte sehen, wo sie langgekommen wären. Es gibt da eigentlich nicht viel zu sehen, aber man kann die kleinen Dörfer erkennen. Wo immer ein Dorf ist, ist auch Wasser, sonst könnte dort niemand leben.
Was hat Sie bei der Recherche besonders beeindruckt oder erschreckt?
Die Szene am Anfang, wenn es um den Tschadsee geht. Diese Oase in der Sahara, die Millionen Menschen ernährt, war vor 50 Jahren noch 24 000 Quadratkilometer groß. Heute sind es 1 300 Quadratkilometer. Der See ist wahnsinnig geschrumpft und kann nicht mehr annähernd so viele Menschen ernähren wie früher. Kiah gehört zu denen, die weggehen. Das ist ein großes Thema für Europa: illegale Migration aus Afrika. Kiah will nicht nach Europa. Die Migranten wollen nicht unbedingt bei uns leben, sondern lieber zu Hause bleiben. Sie werden gezwungen zu gehen - von uns, weil wir so viel Benzin verbrauchen, so viel Kohle verbrennen. Kiahs Reise symbolisiert die Verbindung von dem, was wir in Europa tun, mit Afrika.
Follett: "Alle Zahlen im Buch sind offizielle Informationen"
Wie realistisch sind die Militärschläge? Haben Sie für die Dramatik übertrieben?
Absolut nicht. Die Zerstörungskraft von heutigen Nuklearwaffen ist enorm. Alle Zahlen im Buch sind offizielle Informationen, ich habe nichts erfunden. Auch weniger schlimme Angriffe, etwa, wenn ein Schiff versenkt wird oder eine Drohne eine Bombe abwirft, basieren auf Fakten.
Wieder sind die starken Charaktere in Ihrem Buch - und die meisten der guten - Frauen. Warum?
Das liegt teilweise daran, dass die Geschichte nur funktioniert, wenn jeder vernünftige Entscheidungen trifft. Eine Frau scheint in so einer Situation einfach plausibler. Ich glaube, Frauen geraten nicht so schnell in einen Kampf. Sie versuchen eher, die Situation zu beruhigen. Männer werden schneller aggressiv. Es war wichtig in dem Buch, dass die Dinge nicht schieflaufen, nur weil jemand aggressiv wird. Ich dachte, der Leser wird mir glauben, dass die US-Präsidentin alles tun wird, um einen Krieg zu vermeiden. George Bush senior sagte gern: "Ich werde nicht kneifen!" Aber manchmal muss man es, um einen hässlichen Kampf zu vermeiden.
"Nicht kneifen" wollen viele Männer, vor allem Militärs. Ist Krieg Männersache?
Meine Mutter sagte immer, wenn Frauen das Sagen hätten, gäbe es keine Kriege. Wir wissen, dass das nicht stimmt, schließlich hat Margaret Thatcher einen Krieg angefangen. Dennoch ist es teilweise wahr. Frauen sind friedliebender.
Sie sagten einmal, als Sie mit dem Schreiben begonnen haben, wussten Sie noch nicht, wie "Never" enden würde. Wann wussten Sie es?
Das weiß ich nicht mehr genau. Das eigentliche Ende der Geschichte ist, dass die US-Präsidentin eine Entscheidung treffen muss. Ich hätte fast an dieser Stelle aufgehört, ohne zu erzählen, welche Entscheidung das ist. Eine Art offenes Ende. Als ich an dem Punkt ankam, wusste ich aber, dass es eigentlich nur dieses eine Ende gab. Alles andere wäre Kneifen gewesen.
"Die größte Gefahr zur Zeit ist der Klimawandel"
Was ist Ihrer Meinung nach die größte Gefahr für Frieden?
Ich glaube, da gibt es viele Dinge. Ein Krieg kann auf verschiedene Arten beginnen. Ein Nuklearkrieg könnte von einem verrückten amerikanischen Präsidenten ausgelöst werden, und wir wissen, dass ein verrückter amerikanischer Präsident nicht unmöglich ist. Er könnte versehentlich ausgelöst werden. Ein-, zweimal gab es schon Missverständnisse wie einen Vogelschwarm, der auf dem Radar wie Raketen aussah. Beinahe hätten sie den Knopf gedrückt, aber dann haben sie den Fehler bemerkt. Aber ich glaube, die größte Gefahr zur Zeit ist der Klimawandel. Viele versuchen, das Problem zu lösen, aber die Hindernisse sind politischer Natur.
Die Politiker fürchten die Reaktion der Wähler?
Richtig, und es gibt Einzelinteressen. So wie bei diesem demokratischen US-Senator eines Bundesstaats mit viel Kohle-Abbau, der Präsident Bidens Pläne, aus der Kohle auszusteigen, blockiert. Und natürlich sträuben sich große Unternehmen gegen Veränderungen, weil sie fürchten, dann weniger Geld zu verdienen. Für Menschen ist es sehr schwierig, selbstlos zu sein.
Sind wir also zu egoistisch für Frieden?
Ja. Es ist ein Balanceakt. Wir könnten den Klimawandel noch aufhalten, aber vielleicht schaffen wir es nicht. Wir müssen keinen Nuklearkrieg auslösen, aber vielleicht bricht trotzdem einer aus.
Gibt es etwas, das jeder Einzelne für eine friedliche Welt tun kann?
Eher nicht. Wenn es eine einfache Antwort auf die Probleme gäbe, wären sie schon gelöst. Etwas ähnliches sagt die US-Präsidentin im Buch zu ihrer Tochter auf die Frage, warum alles so kompliziert ist: weil die einfachen Probleme sofort gelöst werden. Also bleiben die schweren.
Ken Follett: "Never. Die letzte Entscheidung" (Lübbe, 880 Seiten, 32 Euro)
- Themen:
- Kultur