Interview

Keiner kehrte zurück: Reinhold Beckmann schreibt Buch über seine Mutter

Im Buch"Aenne und ihre Brüder" erinnert TV-Moderator Reinhold Beckmann an das außergewöhnliche Schicksal seiner Mutter.
von  Andre Wesche
Reinholds Beckmanns Mutter Aenne starb 2019 im hohen Alter und hinterließ ihrem Sohn nicht nur die vielen Briefe ihrer Brüder, sondern auch Erinnerungen, die sie mit ihm in langen Gesprächen teilte.
Reinholds Beckmanns Mutter Aenne starb 2019 im hohen Alter und hinterließ ihrem Sohn nicht nur die vielen Briefe ihrer Brüder, sondern auch Erinnerungen, die sie mit ihm in langen Gesprächen teilte. © Foto: Reinhold Beckmann privat

In seinem bewegenden Buch "Aenne und ihre Brüder" erzählt TV-Moderator und Journalist Reinhold Beckmann die Geschichte seiner Mutter. Armut und frühe Todesfälle prägen das Leben der Schusterfamilie Haber. Aennes Mutter stirbt bald nach ihrer Geburt und wird durch eine ebenso tüchtige wie strenge Stiefmutter ersetzt.

Der Vater erliegt wenige Jahre später seinem nie auskurierten Kriegsleiden, und bald gibt es auch schon einen Stiefvater. Gerade diese komplizierten, wenig herzlichen Verhältnisse schweißen die Geschwister fest zusammen – bis der Krieg sie trennt. Die drei ältesten Brüder sterben während des Russlandfeldzugs, der Jüngste mit gerade einmal 17 Jahren beim "Volkssturm" in Hessen.

AZ: Herr Beckmann, vor zwei Jahren haben Sie bei der offiziellen Gedenkstunde zum Volkstrauertag Ihr Lied von den vier Brüdern im Deutschen Bundestag vorgetragen. Haben Sie zu diesem Zeitpunkt schon an dem Buch gearbeitet?
Reinhold Beckmann: Nein, aber ich wollte dieses Buch lange schon schreiben, es brauchte allerdings eine Art Auslöser. Der kam nach dem Auftritt im Bundestag. Zwei, drei Verlage haben gefragt, ob ich die Geschichte meiner Mutter nicht aufschreiben könnte. Den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern meiner Fernsehproduktionsfirma "Beckground TV" habe ich gesagt "Ich bin erstmal weg!" und dann angefangen, zu recherchieren. Da gab es Aufzeichnungen von Gesprächen, die ich mit meiner Mutter geführt hatte, und die Feldpostbriefe ihrer vier Brüder. Dann bin ich in ihren Heimatort Wellingholzhausen gefahren, habe auf Dachböden nach Dokumenten gesucht, ältere Menschen und lokale Historiker getroffen, die mir Geschichten erzählt haben, die ich so noch nicht kannte. Die Vorarbeiten dauerten mehrere Monate.

Reinhold Beckmann: "Meine Mutter hat ihre Brüder durch eine Fotomontage wiedervereint"

Können Sie Ihr Gefühl beschreiben, als Sie zum ersten Mal die Briefe Ihrer Onkel in Händen hielten?
Ich hatte verschiedene Erinnerungen an meine Onkel, obwohl ich sie persönlich ja nie kennengelernt habe. Die erste war durch ein Foto geprägt, das bei uns zuhause in mehreren Zimmern hing. Meine Mutter hatte ihre Brüder Hans, Franz, Alfons und Willi durch eine Fotomontage wiedervereint. Als Kind hatte ich Angst vor dem Bild, weil das so dunkel war und alle Uniformen trugen. Als ich 14 oder 15 war, spielte der Schuhkarton eine große Rolle, in dem meine Mutter die Feldpostbriefe der Brüder aufbewahrte, die sie ihr von den verschiedenen Fronten geschickt hatten.

Die vier im Krieg gefallenen Brüder von Reinhold Beckmanns Mutter in einer Fotomontage.
Die vier im Krieg gefallenen Brüder von Reinhold Beckmanns Mutter in einer Fotomontage. © Foto: Reinhold Beckmann privat

Und?
Ich habe die Briefe zu lesen versucht, aber es fiel mir schwer, weil ich kein Sütterlin konnte. Teile habe ich verstanden, aber vieles blieb ein Mysterium. Netterweise haben mich bei den Arbeiten zum Buch die Mitarbeiter des Volksbundes Deutscher Kriegsgräberfürsorge unterstützt, für die es Alltagsroutine ist, so etwas zu transkribieren. Die Briefe sind ein wesentlicher Part im zweiten Teil des Buches.

TV-Moderator Beckmann schreibt Buch: "In der Heimatdorf meiner Mutter interessiert Politik wenig"

Sie schlagen in Ihrem Buch einen großen Bogen und betten die Familiengeschichte in den historischen Kontext ein. War das von Anfang an so geplant oder hat es sich während der Arbeit so entwickelt?
Ich habe ein paar Wochen und einige Experimente gebraucht, einzelne Geschichten geschrieben, um herauszufinden, wie man das verweben kann. Irgendwann wusste ich, dass es den historischen Faden braucht, um zu erklären, wie der Nationalsozialismus in so einem kleinen Dorf Fuß fassen konnte. In Wellingholzhausen hatte die Kirche das Sagen, die Menschen waren gottesfürchtig und gottergeben, Politik interessierte da wenig. Der Nationalsozialismus war nicht willkommen, die Menschen haben Zentrum gewählt, die christliche Partei.

Eigentlich die klassische Ausgangssituation.
Dann hat sich die SA durch die Kneipen geprügelt und Leute unter Druck gesetzt, der Schuldirektor wurde ausgetauscht, so dass der Propagandaunterricht beginnen konnte. Auf diese Weise hat sich die NSDAP ins Dorf "hineingearbeitet". Es ist schon eine Enttäuschung, zu verfolgen, wie die katholische Kirche einfach nicht wehrhaft genug war. Sie hätte ihren Einfluss anders nutzen können.

Buch "Aenne und ihre Brüder": "Ich habe keine Charaktere oder Handlungsstränge erfunden"

"Aenne und ihre Brüder" ist kein Sachbuch, Sie erzählen auch eine Geschichte. Wieviel Freiheit haben Sie sich genommen?
Ich wollte dem Buch eine erzählerische Form geben, damit die Leute der Geschichte gerne folgen. Ich hatte glücklicherweise viele Erinnerungen meiner Mutter aufgezeichnet, aus denen ich häufig auch die Stimmung ablesen konnte. Die Figuren aus der Nachbarschaft, die ich zitiere, sind Leute, die ich kenne, weil ich als Kind oft meine Sommerferien in Wellingholzhausen verbracht habe. Die Menschen sind mir noch vor Augen und vertraut. Genauso wie die Stiefeltern meiner Mutter. Ich habe also keine Charaktere oder Handlungsstränge erfunden.

Fototauglich in Matrosenhemdchen posieren drei der vier Brüder und die kleine Aenne (zweite von rechts in der ersten Reihe) vor den Verwandten fürs Familienalbum.
Fototauglich in Matrosenhemdchen posieren drei der vier Brüder und die kleine Aenne (zweite von rechts in der ersten Reihe) vor den Verwandten fürs Familienalbum. © Fotos: Reinhold Beckmann privat

Gleich zu Beginn stellen Sie die Frage, was für ein Mensch Sie damals gewesen wären. Kann es eine Antwort darauf geben?
Nein, die kann es nicht geben. Man muss sich diese Frage stellen, aber man darf sich nicht erheben und sagen, man selbst hätte widerstanden oder wäre desertiert. Ich habe so mit 16, 17 ab und an Debatten mit meinem Vater geführt und – sicherlich nicht sehr verständnisvoll – gefragt, wie sie alle auf Hitler hereinreinfallen konnten. Auf diesen bellenden Diktator, der wie ein Zombie geredet hat. Im Zuge der Recherche habe ich jetzt Sebastian Haffners kluges Buch "Anmerkungen zu Hitler" entdeckt, der Ende der 70er schrieb: "Damals erforderte es aber ganz außerordentlichen Scharfblick und Tiefblick, in Hitlers Leistungen und Erfolgen schon die verborgenen Wurzeln der künftigen Katastrophe zu erkennen, und ganz außerordentliche Charakterstärke, sich der Wirkung dieser Leistungen und Erfolge zu entziehen." Vielleicht wäre es gut gewesen, wenn ich Haffners Ausführungen schon als junger Mensch gekannt hätte. Das hätte den Konflikt mit meinem Vater sicher entschärft.

Reinhold Beckmann: "Parteien wie die AfD sind gut darin, Unzufriedenheit zu nutzen"

Mit welchen Gefühlen beobachten Sie das Aufkeimen rechten Gedankenguts in Deutschland und anderen europäischen Ländern?
Mit großer Sorge. Die Radikalisierung der Mitte der Gesellschaft hat leider schon längst begonnen, mahnt nicht zu Unrecht Gerhart Baum, unser ehemaliger FDP-Innenminister. Da ist es unglücklich, wenn unser Bundeskanzler Olaf Scholz sagt, die AfD wäre die "Schlechte-Laune-Partei". Das wird den Unmut derer, die der Regierung einen Denkzettel verpassen wollen, nur noch erhöhen. Parteien wie die AfD sind immer gut darin, Unzufriedenheit für sich zu nutzen.

Sind Sie ein gläubiger Mensch?
Ich bin noch in der katholischen Kirche – aber manchmal frage ich mich, weshalb. Ich glaube an eine Kraft und an eine höhere Energie, das schon. Aber seit vielen Jahren nicht mehr an die Institution. Dafür gab es zu viele Enttäuschungen, Missstände, die nicht aufgearbeitet werden. Es bräuchte eine große Figur, die den ganzen Laden mal aufräumt. Wie sagte zuletzt ein Kollege: "Es braucht den katholischen Martin Luther." Da müssen mehr als nur Tintenfässer an die Wand fliegen. Ich hatte erst die Hoffnung, dass der argentinische Papst etwas ändern wird. Für mich war seine Wahl wirklich ein Zeichen, weil Franziskus dafür stand, sich für die Schwachen der Gesellschaft einzusetzen. Ein Sozialpolitiker vor dem Herrn. Man merkt leider, wie seine Ziele von diesem Apparat Vatikan mit seinen mafiösen Strukturen aufgefressen wurden.

Beckmann über seine Familie: "Ich würde schon gerne wissen, was sie gehen haben"

Welche Frage würden Sie Ihren Onkeln gern stellen?
Es gibt manche Fragen, die in den Briefen nicht beantwortet werden. Hitler hat den Krieg ja nicht mit 17 Millionen Nationalsozialisten geführt. Er hat es aber geschafft, meine Onkel – genauso wie viele andere auch – zu Dienern des NS-Staates zu machen. Franz, Hans, Alfons und Willi waren ganz einfache Jungs vom Land. Ich würde schon gerne wissen, was sie gesehen haben, gerade bei Hans.

Weshalb Hans?
Er ist zu Kriegsbeginn in Polen, und der Weg seiner Einheit geht durch die Dörfer, wo die SS bekanntlich mit logistischer Hilfe der Wehrmacht die Juden umgebracht hat. Meine Onkel schreiben über solche Themen nicht. Was verständlich ist, denn die Briefe liefen über Prüfstellen und es wurde stichprobenartig kontrolliert, ob es defätistische Bewegungen innerhalb der Truppe gibt und ob die Moral noch stimmt. Franz ist der offenste von allen, schreibt Dinge wie: "Das ist die Hölle hier. Wann hört der Schwindel endlich auf?" Sönke Neitzel, Militärhistoriker aus Potsdam, meint, mein Onkel sei ganz schön mutig gewesen, das so kritisch zu formulieren. Franz hat im Oktober 1944 beim Heimaturlaub seine große Liebe geheiratet. Er musste wieder zurück an die Front und ist am 16. April kurz vor Kriegsende ums Leben gekommen. Das ist so tragisch.


Reinhold Beckmann: "Aenne und ihre Brüder" (Propyläen, 352 Seiten, 26 Euro)

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