Kritik

Tim Pröse hat das bewegende Buch "Wir Kinder des 20. Juli" geschrieben

von  Volker Isfort
Der Hinrichtungsraum in der Gedenkstätte Plötzensee in Berlin - mit den Fleischerhaken, an denen die Verurteilten, die Widerständler des 20. Juli 1944, gehängt wurden.
Der Hinrichtungsraum in der Gedenkstätte Plötzensee in Berlin - mit den Fleischerhaken, an denen die Verurteilten, die Widerständler des 20. Juli 1944, gehängt wurden. © IMAGO/Jürgen Ritter

Alljährlich treffen sie sich in der Gedenkstätte Plötzensee und legen Blumen nieder vor den Galgen, an denen ihre Väter, Widerständler des 20. Juli 1944, den Tod fanden. Inzwischen selbst hochbetagt, ist dieser Gang kein leichter für die Nachfahren, denn er erinnert sie an ein Leben, das geprägt war von der großen Leerstelle, die ihre Väter hinterließen.


Der Journalist Tim Pröse hat Biografien über Udo Lindenberg, Mario Adorf, Jan Vedder und die "Samstagabendhelden" der bundesrepublikanischen TV-Geschichte geschrieben. Sein Lebensthema aber ist die deutsche Vergangenheit, die er in Büchern wie "Jahrhundertzeugen. Die Botschaften der letzten Helden gegen Hitler" festhielt. So erwarb er im Laufe der Jahre auch das Vertrauen der Nachkommen der Widerständler, die mit Ihrer Geschichte sonst nicht in die Öffentlichkeit gingen. Und im Jahr 2022 luden sie ihn ein, dem Gedenken in Plötzensee beizuwohnen.

 

Himmler wollte ganze Familien töten 

Ein Dutzend dieser Nachfahren hat Tim Pröse wiederholt besucht, interviewt und nun in seinem neuen Buch porträtiert, beginnend mit Berthold von Stauffenberg, Sohn von Claus Schenk Graf von Stauffenberg, dem Mann, der am 20. Juli 1944 im "Führerhauptquartier Wolfsschanze" die Bombe in Hitlers nähe platzierte, die diesen aber nur leicht verletzt hat. Stauffenberg wurde nach seiner Rückkehr nach Berlin noch am selben Tag im Hof des Bendlerblocks erschossen, die lange vorbereitete Übernahme des NS-Staats war gescheitert, rund 200 Mitverschwörerinnen und Verschwörer fanden in den folgenden Monaten den Tod. Himmlers Plan aber, auch die weitverzweigten Familien der Widerständler zu töten, wurde nicht umgesetzt.

48 Kinder der Widerständler landeten in einem Heim in Bad Sachsa und galten lange auch in der Bundesrepublik als "Verräterkinder". Denn Deutschland tat sich lange schwer mit den Helden des 20. Juli. So erhielt beispielsweise die Ehefrau des am 8. September in Plötzensee hingerichteten Widerständlers Georg Alexander Hansen, Verbindungsmann zwischen Stauffenberg und dem geistigen Vater des geplanten Umsturzes, Generalmajor Henning von Tresckow, erst nach langem Prozessieren 1966 eine Witwenrente, wie ihr Sohn dem Autoren Tim Pröse erzählt.

Lesung mit Autor Tim Proese zum Thema -gelebte Toleranz und Demokratie.
Lesung mit Autor Tim Proese zum Thema -gelebte Toleranz und Demokratie. © IMAGO/Funke Foto Services

Die Fassungslosigkeit über den Aufstieg der AFD

Karsten Hansen hat selbst über seinen Vater geforscht, das Buch "Widerstand und Abwehr" verfasst und versucht, dass Vermächtnis der Widerständler an die nächste Generation weiterzugeben. Das eint ihn mit vielen seiner Schicksalsgenossen, die von den Taten ihrer Väter geprägt sind. So auch Anton Wirmer, der Sohn des Widerständlers Josef Wirmer, der Büroleiter bei Norbert Blüm war und später im Kanzleramt unter Kohl arbeitete.

Die Sorge um den russischen Einmarsch in der Ukraine, aber vor allem die Fassungslosigkeit über den Aufstieg der AfD in Deutschland kommt in vielen von Pröses Gesprächen zum tragen. Und für die Kinder der Helden ist es natürlich unerträglich, wenn die AfD mit völlig widersinnigen Vergleichen sogar versucht, die Widerständler gegen Hitler zu vereinnahmen. "Auch die Geschwister Scholl haben sich mutig dem Zeitgeist widersetzt, so wie heute die AfD", zitiert Pröse einen AfD-Sprecher und stellt ihm die Aussage von Johannes Tuchel, Leiter der Gedenkstätte Deutscher Widerstand, entgegen: "Das Kalkül der Neuen Rechten (...) ist klar: sich selbst als Opfer darzustellen, im freiheitlichen Staat der Bundesrepublik eine ,Diktatur' zu sehen und sich über den Bezug zum Widerstand gegen den Nationalsozialismus eine eigene Legitimität für politische Aktivitäten zu verschaffen. Dies ist durchsichtig, historisch falsch und unangemessen."

 


Pröses bemerkenswertes und wichtiges  Buch zielt keineswegs nur in die Vergangenheit, denn seine Zeitzeugen brennen dafür, den Jüngeren klarzumachen, dass Demokratie und Menschenrechte nicht vom Himmel fallen, sondern immer wieder neu erkämpft werden müssen. Man braucht keine Syltvideos von geschichtsvergessenen Schnöseln, um zu ahnen, dass dies notwendiger denn je ist.

Tim Pröse: "Wir Kinder des 20. Juli" (Heyne Verlag,
368 Seiten, 22 Euro)

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