Interview

"Ich glaube nicht an ein Comeback von Boris Johnson"

Der britische Autor Jonathan Coe über seinen Roman "Bournville" und die aktuelle Politik seines Landes
von  Volker Isfort
Der britische Schriftsteller Jonathan Coe.
Der britische Schriftsteller Jonathan Coe. © Foto: Imago

Wie kaum ein anderer britischer Schriftsteller verbindet Jonathan Coe in seinen Romanen Familiengeschichten mit der Politik seines Landes. Und da er über ein gewaltiges satirisches Talent verfügt, sind seine Gesellschaftsporträts bei aller Schärfe immer ein großes Lesevergnügen.

Beim Aufräumen des Nachlasses seiner in der Pandemiezeit gestorbenen Mutter stieß Coe auf alte Tagebuchaufzeichnungen und fand schließlich die Inspiration zu seinem neuen Roman "Bournville", der einen unterhaltsamen Ritt durch die letzten 75 Jahre der britischen Geschichte beschreibt. Der "Roman in sieben Ereignissen" (von den Feierlichkeiten zum Ende des Zweiten Weltkriegs, über die Krönung Elizabeths II., das WM-Finale 1966 bis hin zur Beerdigung von Diana und der Feier zum 75. Jahrestags des Kriegsendes) erweitert den Stammbaum zweier Familien, die Coe schon in vielen seiner Romane porträtierte.

Das titelgebende Bournville, ein Ort bei Birmingham und Sitz der Schokoladenfabrik Cadbury, steht als ein Symbol für britisches Unternehmertum mit sozialem Engagement. Doch von der gesellschaftlichen Geschlossenheit wird am Ende des Buches, nach Turbo-Kapitalismus, Brexit und Covid nicht mehr viel übrig sein.

AZ: Mister Coe, ich habe in der Pandemiezeit mit vielen Schriftstellern gesprochen, die sich in einem Punkt einig waren: Sie wollten alle nicht über Covid schreiben, weil sie glaubten, dass niemand später daran erinnert werden möchte.

Jonathan Coe: Ich wollte einen Roman schreiben, der mit dem Tod meiner Mutter im Frühjahr 2020 endet. Das war ohne die Erwähnung der Pandemie nicht möglich. Mein Roman beginnt mit der Deutschlandtour einer Jazzband im Frühjahr 2019 und die basiert auf meiner eigenen Lesetour, die sehr seltsam war. Wo auch immer ich auftrat, wurde am nächsten Tag der Laden zugesperrt. Wir haben vieles verdrängt und tatsächlich war der Pandemieaspekt der am schwierigsten zu recherchierende Teil dieses Romans. Denn ich musste nachforschen, welche der Beschränkungen genau zu welchem Zeitpunkt gültig waren. Und wir Briten wissen nun, dass Boris Johnson seine eigenen Bestimmungen völlig egal waren.

Er kommt in Ihrem Roman, als Journalist in Brüssel und im Nachwort als Premierminister vor. Glauben Sie, dass Sie als Chronist der britischen Geschichte ihn in einem künftigen Roman noch mal erwähnen müssen?

Ich glaube nicht an sein politisches Comeback. Er ist zurück bei der "Daily Mail", wo seine journalistische Laufbahn begann. Meiner Meinung nach arbeitet allerdings Liz Truss, unsere ehemalige Premierministerin mit der kürzesten Amtszeit, an ihrem Comeback. Wenn die Konservativen nach den nächsten Wahlen in der Opposition sein sollten und wohl noch stärker nach rechts rücken werden, ist sie mit ihren politischen Positionen eine mögliche Parteiführerin. Sie übt es jedenfalls schon.

Fast überall in Europa gab es zuletzt nach Wahlen einen Rechtsrutsch. In den derzeitigen Umfragen in Großbritannien führt dagegen Labour mit großem Abstand.

Der Umfragevorsprung resultiert aber nicht daher, dass die Menschen von der Partei oder ihrem Vorsitzenden Keir Starmer überzeugt sind, sondern aus der Verachtung der konservativen Partei. Wir Briten sind wie so oft dem Kontinent ein paar Jahre voraus. Der Weg, den wir seit 2016 eingeschlagen haben, mit immer rechteren Positionen, hat zu nichts geführt. Die Bevölkerung merkt jetzt, dass sie das nicht will.

Wird Keir Starmer, wenn er nächster Premier werden sollte, Großbritannien wieder näher an Europa heranführen?

Wenn wir über den Brexit reden, müssen wir über Demografie reden. Die brutale Wahrheit ist, dass die Älteren uns den Brexit beschert haben, und im Laufe der Jahre gewinnen deshalb ganz natürlich die Europabefürworter wieder die Oberhand. Aber es gibt derzeit noch keinen ernstzunehmenden Politiker, der mutig genug ist zu sagen, dass wir den Brexit wieder rückgängig machen sollten.

Ihr Buch springt über die Jahrzehnte anhand von zentralen Ereignissen der britischen Nachkriegsgeschichte. Sie zitieren auch aus den Reden zu diesen Anlässen. Waren Sie stolz oder gerührt beim Eintauchen in die Vergangenheit?

Eigentlich nicht. Ich war beispielsweise überrascht, dass Churchill ein eigentlich langweiliger Redner war. Wir kennen seine berühmten Sätze, aber insgesamt waren seine Reden viel zu detailliert und keineswegs so mitreißend. Und den gestelzten BBC-Kommentar zur Krönung von Elizabeth II. 1953 zu hören, ist heute eine geradezu humoristische Erfahrung.

Der humoristische Höhepunkt Ihres Buches ist der über zwei Jahrzehnte währende "Schokoladenkrieg" der Briten mit der Europäischen Union. Dabei ging es nur um den Anteil von Pflanzenfett in der Schokolade. War dies der Auftakt einer Entfremdung, die zum Brexit führte?

Sehen wir es positiv: In früheren Jahrhunderten hätte es deswegen einen wirklichen Krieg gegeben, insofern ist die EU-Bürokratie schon ein Fortschritt. Tatsächlich habe ich über fünf Jahre lang mit Julia Gavras, der Tochter von Constantin Costa-Gavras, versucht, aus dem Stoff ein Drehbuch zu machen. Wir sind leider daran gescheitert. Also habe ich den Stoff mir ihrer Einwilligung in "Bournville" untergebracht.

Immerhin soll ja ein anderes Projekt von Ihnen verfilmt werden, ihr letzter Roman "Mr. Wilder & me".

Das hat sich durch den Drehbuchstreik in Hollywood etwas verzögert, aber Regisseur Stephen Frears ist sicher, dass er den Film im nächsten Jahr drehen wird.

Christoph Waltz soll Billy Wilder spielen, dabei hat er nicht die geringste physische Ähnlichkeit.

Ich habe da volles Vertrauen zu Stephen. Er hat sich mit Christoph Waltz getroffen und danach war er sich absolut sicher.

Jonathan Coe: "Bournville - Ein Roman in sieben Ereignissen" (Folio Verlag,
404 Seiten, 28 Euro)

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