Historiker über Goebbels' Sportpalast-Rede: "Nicht auf den Mythos hereinfallen"
München - AZ-Interview mit Peter Longerich: Er war Professor für moderne Geschichte am Royal Holloway College der Universität London und Gründer des dortigen Holocaust Research Centre. Von 2013 bis 2018 war er an der Universität der Bundeswehr in München tätig. Er ist Mitautor der Konzeption des Münchner NS-Dokumentationszentrums.
AZ: Herr Professor Longerich, die Sportpalast-Rede ist heute allgemein bekannt als Beispiel für propagandistische Inszenierung - weniger bekannt ist, was Sie in Ihrem Buch beschreiben: dass ihre Intention damals schon durchschaut wurde, und zwar im In- wie im Ausland. Ist das verwunderlich, dass Goebbels so viele nicht täuschen konnte?
PETER LONGERICH: Es war eine inszenierte Rede in einem geschlossenen Raum, und in einem solchen Raum konnte man diese Wirkung erzielen, mit diesem Publikum, das aus Nationalsozialisten bestand und vertraut mit der Situation und dem Ort war. Außerhalb des Sportpalastes konnte man diese Wirkung nicht erzielen, weil man nicht die Kontrolle über die Bedingungen hatte. Im Ausland galt Goebbels sowieso als Inbegriff der zynischen Lüge. Von daher hat man dort argumentiert, dass den Nazis das Wasser bis zum Halse stehen muss, dass sie zu solch extremen Mitteln greifen müssen.
"Goebbels war sicher sein begeistertster Zuhörer"
War Goebbels nicht fähig, die Wirkung der Rede im Ausland einzuschätzen, oder wollte er nicht?
Goebbels war durch und durch narzisstisch geprägt und konnte überhaupt nicht unterscheiden zwischen der objektiven Wirkung und seinem eigenen Triumphgefühl. Das kann man daran sehen, dass er regelmäßig vor seinen Reden in Presseanweisungen vorgab, wie diese zu präsentieren waren, und sich dann in seinen Tagebüchern wie ein Schneekönig darüber freute, dass die Presse ihn über den grünen Klee lobt. Er war überhaupt nicht in der Lage, eine Distanz zu seiner Wirkung zu haben.

Das heißt, er schwebte völlig in anderen Sphären und konnte daher nicht überzeugen?
Er hat selbst in seinen Tagebüchern geschrieben, dass er dafür sorgen wird, dass das Publikum im Sportpalast aus überzeugten Nationalsozia-
listen bestehen wird, und ist dann wie berauscht von der Wirkung von seiner Rede. So kühl und berechnend er das inszeniert hat, so sehr hat er sich von der eigenen narzisstisch geprägten Wahrnehmung völlig davontragen lassen. Die nationalsozialistische Propaganda ist ja so aufgebaut, dass sie ihre eigene Erfolgsgeschichte gleich miterzählt. Es gibt keine Großveranstaltung, die nicht öffentlich als Riesenerfolg gefeiert wurde.
Man könnte zynisch sagen, am meisten hat die Rede bei ihm selbst verfangen?
Er war sicher sein begeistertster Zuhörer.
Es gab auch Prominente im Publikum, etwa den Schauspieler Heinrich George. Was weiß man über seine Reaktion?
Wenn man nach den Goebbels-Tagebüchern geht, galt George als verlässlicher Gefolgsmann des Nationalsozialismus. Man kann auf Fotos sehen, dass George sich begeistert gibt, aber natürlich war er Schauspieler. Wenn er dahin ging, wusste er, was er zu tun hatte.
Das Publikum war zwar handverlesen - hätte es aber dennoch die Möglichkeit gegeben, Unmut zu äußern? Sie schreiben von "zögerlichem Beifall" - ist das schon Kritik?
Nein. Das Publikum reagiert auf jede Nuance des Redners sehr genau. Und wenn es sich um zögerlichem Beifall handelt, will es zum Ausdruck bringen, dass es "nur" begeistert ist, bei stärkerem Beifall ist es "ganz" begeistert. Man muss sich auch diese Redepassagen ansehen. Da geht es etwa um die italienischen Bundesgenossen. Da will man wohl signalisieren, dass man die für nicht ganz so zuverlässig hält wie die Japaner, bei denen der Beifall wieder stärker wird. Das war durchaus im Sinne des Redners. Das Ganze ist ja ein Zwiegespräch zwischen Publikum und Goebbels gewesen. Goebbels musste diese Reaktion im Publikum aufbauen, damit er am Schluss diese Klimax, seine zehn Fragen, erreichen konnte. Dazu gehört die sehr feine Reaktion des Publikums - wenn er etwa einen ironischen Unterton anschlägt, dann gibt es schon die ersten Lacher im Publikum, und wenn er einen drohenden Ton anschlägt, dann kommen bereits zustimmende Zwischenrufe. Die Rede ist eigentlich nur verständlich, wenn man sich immer die Reaktion des Publikums vor Augen hält.
Kritik an der Überzeugungskraft der Rede kam auch aus den eigenen Reihen - hat Goebbels aus Sicht der Partei nicht "geliefert"?
Der Hintergrund der Rede ist, dass es sich um einen internen Machtkampf handelt, bei dem Goebbels bestimmte andere Personen aus der Führungsriege, die sich gegen eine Radikalisierung der Kriegsmaßnahmen stellen, ausmanövrieren und auch Hitler gleichsam überfahren will mit diesem Appell an das Volk. Wer damals einigermaßen gut informiert war, hat sicher mitbekommen, dass sich da jemand positionieren will.
Wie wurde die Rede in späterer Zeit gesehen?
Wenn man heute Menschen darauf anspricht, die keine Fachhistoriker sind, dann ist die Rede zunächst einmal nach wie vor präsent, auch bei der jüngeren Generation. Das ist immer verbunden mit der Vorstellung, dass es Goebbels gelungen sei, eine Menschenmenge mit propagandistischen Mitteln zum Äußersten zu treiben, sie quasi dazu zu bringen, über die Klippe zu springen. Dahinter steht die Vorstellung vom Nationalsozialismus als großer Verführer, der die Menschen zu Allem bringen kann, weil er die entsprechenden Mittel hat. Von diesem Bild ist man in der Wissenschaft längst abgerückt und ich möchte einfach versuchen, diese Inszenierung für ein breiteres Publikum durchschaubar zu machen.
"Die Wirkung der Rede war sehr begrenzt"
Welche Bedeutung hat die Rede heute noch, warum sollte man sich mit ihr noch beschäftigen?
Die Wirkung der Rede war sehr begrenzt. Über das Publikum im Sportpalast hinaus hat sie keine große und keine nachhaltige Wirkung gehabt. Man darf nicht auf den Mythos der Nationalsozialisten hereinfallen, die durch die propagandistische Weiterverarbeitung der Rede über alle Kanäle den Eindruck erweckt haben, dass so etwas wie eine Zeitenwende in diesem Krieg erreicht worden wäre.

Welche Parallelen gibt es zur Rhetorik heutiger autoritärer Regime?
Was diesen rhetorischen Aufwand angeht, kenne ich keinen Vergleich, aber eine Parallele gibt es: Man kann in einem geschlossenen Raum eine solche Atmosphäre herstellen, und wenn man das Publikum entsprechend ausgesucht hat, kann man es zu einer enthusiastischen Zustimmung bringen. Wir haben heute weniger solche Massenveranstaltungen, aber wir haben in Medien auch diese geschlossenen Räume, wo Menschen nur das hören, was sie hören wollen, und nur diese Räume betreten, weil sie sich bestätigt sehen wollen.
Peter Longerich: "Die Sportpalast-Rede 1943. Goebbels und der ,totale Krieg'", Siedler Verlag, 208 Seiten, 24 Euro