Gewalt und Gedächtnis

Am 7. Oktober griff die radikalislamische Terrororganisation Hamas Israel an und löste einen neuen Krieg in Nahost aus. Am 23. Oktober erschien das neue Buch von Mirjam Zadoff, der Direktorin des Münchner NS-Dokumentationszentrums. Es heißt "Gewalt und Gedächtnis - Globale Erinnerung im 21. Jahrhundert" und beschäftigt sich mit einem Thema, das auf einmal unerhört an Brisanz gewonnen hatte.
Zadoff setzt sich mit der Frage auseinander, wie Menschen mit politischer Gewalt, mit persönlichen und nationalen Traumata umgehen. Wie erinnern sie sich? An was und wen wird erinnert? Wie geben sie diese Erinnerungen weiter? Wie kann aus Erinnerungen eine positivere Zukunft erwachsen?
Zadoffs Buch ist eine Reise um die Welt, sie blickt nach Afrika und Asien, in die USA, nach Israel und natürlich auch nach Deutschland, macht sich auf die Spuren von Genoziden und Kriegsverbrechen. Sie hat sich gefragt, wo die Aufarbeitung der Vergangenheit nur der Selbstdarstellung dient - und wie sie möglicherweise in positive Konsequenzen für die Gegenwart mündet.
Am Freitag sprach Mirjam Zadoff im Literaturhaus mit dem Journalisten Ronen Steinke über das Buch und all die Fragen, die es aufwirft. Der Schriftsteller Lukas Bärfuss, der diesen Abend im Rahmen des Literaturfestes als Kurator geplant hat, sagte in seiner Begrüßung: "Als wir das Thema für dieses Forum gewählt haben, ahnten wir nicht, dass wir in einer schrecklichen Realität landen." Das übergeordnete Thema des umfangreichen Forums ist das Erben in all seinen Facetten. Vom persönlichen Erbe bis zum gesellschaftlichen, von der Wanduhr des Urgroßvaters bis zum Klimawandel. Auch das jüdische Erbe und die Frage nach einer angemessenen Erinnerung sind somit Teil seines ambitionierten Programms.
Eine Sprache für den Schrecken finden
Das Gespräch zwischen Zadoff und Steinke läuft unter dem Titel "Gewalt und Gedächtnis - Warum wir eine globale Erinnerungskultur brauchen". Auf die Frage, warum sie sich entschieden habe, so viele Nationen und ihre Gräueltaten zusammenzubringen, zeigt Zadoff eindrücklich die Querverbindungen auf, um die es ihr ging. "Es gibt keine klaren Trennungen", sagt sie. So haben sich auch die Nazis auf Strukturen bezogen, die es bereits vor ihnen gab, beispielsweise den Transport von Menschen in Viehwaggons. Die Apartheid in Südafrika wiederum griff die Nürnberger Gesetze aus dem Jahr 1935 auf.
Es geht Zadoff nicht darum, durch Gegenüberstellung zu verharmlosen oder zu relativieren. Im Gegenteil. Es geht darum, die Notwendigkeit aufzuzeigen, eine Sprache zu finden für die Schrecken, eine globale Kultur des Erinnerns zu etablieren, die optimalerweise natürlich in ein Lernen aus der Vergangenheit mündet.
Als die Runde für Publikumsfragen geöffnet wird, steht unvermeidlich die aktuelle Situation im Zentrum des Interesses. Was muss passieren, damit Erinnerungskultur gelingt? Schnell kommt die Sprache auf den bayerischen Landtagswahlkampf, auf das Signal in der Causa Aiwanger, dass antisemitische Äußerungen im Grunde egal seien und keine Konsequenzen haben.
Konsequenzen aus der Causa Aiwanger
Es ist Ronen Steinke, der daraufhin etwas sehr bemerkenswertes sagt. Ein verpflichtender Besuch für alle Schülerinnen und Schüler in einer KZ-Gedenkstätte sei nicht unbedingt das Mittel der Wahl im Kampf gegen Antisemitismus in der Gesellschaft. "Das löst kein Problem", so Steinke. "Antisemitismus ist die Vorstellung: Juden sind schlecht und böse. In eine KZ-Gedenkstätte zu fahren, vermittelt das Wissen: Juden sind ermordet worden. Diese beiden Dinge sind logisch durchaus kompatibel.
Eine Schulklasse, die sich morgens in den Bus setzt und dorthin fährt, muss nicht zwangsläufig mit der Einstellung zurück kommen, die Juden sind alle edle und gute Menschen gewesen. Man kann nach diesem Schulausflug dieselben Ressentiments haben wie davor." Was gegen Vorurteile viel eher helfe, sei "die Begegnung mit Menschen, nicht die mit Steinen und Stacheldraht".
Auf Gemeinsamkeiten setzen
Eine Erinnerungskultur, die nach vorne blickt, muss also auf Gemeinsamkeiten setzen, nicht auf Unterschiede. Zadoff würde sich wünschen, dass die Geschichte der deutschen Juden in den Schulen nicht auf die Pogrome im Mittelalter und Auschwitz reduziert würde, sondern deutlich macht, dass deutsche Geschichte auch jüdische und postmigrantische Geschichte sei. Dass deutsches Leben immer auch jüdisches Leben war und ist. Was hält eine Demokratie und einen Staat zusammen? Eine positive Wir-Erzählung. Sie würde sich auch ein "Museum der Menschen" wünschen, einen Ort, der Vielfalt zeige und in dem alle verschiedenen Deutschen selbstverständlich vorkämen.
Und so geht man trotz all der angesprochenen Gräuel mit dem hoffnungsvollen Gefühl aus diesem Abend, dass mehr möglich ist. Mehr Menschlichkeit. Mehr Gemeinsamkeit. Weniger Hass.