Kritik

Gehört in jede Schulbibliothek: Maia Kobabes "Gender Queer"

Die in den USA umkämpfte Graphic Novel ist nun auf deutsch erschienen
von  Anne Fritsch
Eine Szene aus der Graphic Novel.
Eine Szene aus der Graphic Novel. © Reprodukt

In der Schule fing es an. Maia durfte nicht ins Baumhaus der Jungs. "Weil Mädchen doof sind!" Vorher hatte diese Einordnung in Jungs und Mädchen in ihrem Leben keine große Rolle gespielt. Maia war Maia, spielte mit dem Nachbarjungen und begeisterte sich für Schlangen. Doch von nun an gab es zwei Geschlechter und entsprechende Rollenbilder. Wie verhält sich ein Mädchen? Wie ein Junge? Wer bin ich? Maia weiß das nicht so genau, hadert mit sich und den Reaktionen ihrer Umwelt.

Weg der Selbstzweifel

"Gender Queer" heißt die Graphic Novel von Maia Kobabe aus dem Jahr 2019, im Untertitel: "Eine nichtbinäre Autobiografie". Jetzt ist sie auf deutsch erschienen. Gender-queere Personen fühlen sich weder weiblich noch männlich, sie hinterfragen das Geschlecht als einordnende Kategorie.

Maia Kobabe.
Maia Kobabe. © A. Rudd

Was so einfach klingt und so mutig, kann ein langer Leidensweg sein. Ein Weg der Unsicherheit, des Sich-nicht-richtig-Fühlens, des Nicht-Dazugehörens und der Selbstzweifel. Kobabe zeichnet ihn mit größtmöglicher Genauigkeit in all seinen Wirrungen nach, überwindet die Scham und gelangt zu einer berührenden Ehrlichkeit. In den USA wurde die tief persönliche Geschichte zum Politikum: Viele Schulen verbannten das Buch aus ihren Bibliotheken, Republikaner in North und South Carolina, Texas und Virginia forderten ein Verbot des Buches, das sie als "pornografisch" bezeichneten.

Ratlosigkeit und Schmerz

"Gender Queer" erzählt von einem schwierigen sexuellen Erwachen (oder eben: Nicht-Erwachen) - in einer Zeit, in der LGBTQIA+-Menschen und deren Themen gesellschaftlichen Anfeindungen ausgesetzt sind. Man erinnere sich nur kurz an die Aufregung um eine einfache Lesung von Dragking Eric BigClit und Dragqueen Vicky Voyage für Kinder in der Münchner Stadtbibliothek.

Was ist dran am Vorwurf der Pornografie in Maia Kobabes Buch? Natürlich werden sexuelle Handlungen thematisiert und gezeichnet. Allerdings dienen diese Szenen in keinem Moment der Aufgeilung in irgendeiner Form. Vielmehr geht es um Kobabes Ratlosigkeit, den Schmerz, keine Orientierung zu finden in einer Welt, in der Queerness keine Selbstverständlichkeit ist und Menschen wie Maia kaum Vorbilder finden.

Dieses Buch gehört in jede Schulbibliothek

Diese Graphic Novel erzählt vom Kampf, sich selbst zu finden, der alle Heranwachsenden trifft, aber ungleich schwerer wird, wenn es keine Worte gibt für die eigene Identität. Kobabe definiert sich zunächst als bisexuell, weil das am naheliegendsten scheint, liest hunderte Bücher und viel Oscar Wilde, hört David Bowie, wagt sich in Treffen der "Queer-Straight-Alliance" in der Schule und fühlt sich doch immer fremd: fremd im eigenen Körper und fremd in der Gesellschaft der anderen. Die "Wolken der geschlechtlichen Verwirrung", die Kobabe hinter den Zeitstrahl im Buch zeichnet, überschatten alles. Maia will kein Mädchen sein, aber auch kein Junge, sucht "nicht Maskulinität, sondern Gleichgewicht". Dem von Geburt an zugewiesenen weiblichen Geschlecht setzt Maia kurze Haare und weite Kleidung entgegen, denkt nach über Hormone, Pronomen, einen neuen Namen und eine Brustentfernung.

Zwischen Meer und Bergen

Maia hat es schwer und doch leichter als viele andere: Familie und Umfeld verurteilen nicht, sondern akzeptieren und unterstützen. Hart ist es dennoch bis zur Erkenntnis: "Manche werden in den Bergen geboren, andere am Meer. Einige leben gern dort, wo sie geboren wurden, während andere reisen müssen, um in ein Klima zu kommen, in dem sie wachsen und gedeihen können. Zwischen dem Meer und den Bergen ist ein wilder Wald. Dort möchte ich gern zu Hause sein."

Eine Seite aus der Graphic Novel.
Eine Seite aus der Graphic Novel. © Reprodukt

Dieses Buch aus den Schulbibliotheken zu verbannen, ist im Grunde ein Akt der Barbarei. Vielmehr sollte es nicht nur in jeder einzelnen Schulbibliothek des Landes stehen. Es sollte verteilt, verschenkt und miteinander gelesen werden. Weil es verstehen hilft, Not aufzeigt und Toleranz schult. Weil es schmerzlich deutlich macht: Es tut nicht weh, wenn andere anders sind. Aber es tut weh, wenn für die eigene Identität kein Raum ist. Weil es betroffenen Jugendlichen zeigt: Du bist nicht allein.

Maia Kobabe: "Gender Queer" (Reprodukt, 240 Seiten, farbig, 20 Euro)

merken
Nicht mehr merken
X

Sie haben den Inhalt der Merkliste hinzugefügt.