Édouard Louis liest in München aus seinem Roman: Einer, der auszog, sich selbst zu finden
München - In einer gerechten Gesellschaft wäre sein Schicksal ein Massenphänomen. Doch die soziale Durchlässigkeit ist in Frankreich noch ein bisschen unmöglicher als in Deutschland, und so bildet Édouard Louis' Aufstiegsgeschichte nun schon den Stoff für seinen vierten Roman.
Die Geschichte einer spektakulären Persönlichkeitsentwicklung
In seinem Bestseller "Das Ende von Eddy" (2014) beschrieb der 1992 als Eddy Bellegueule geborene Autor den radikalen Bruch mit seiner Vergangenheit, der Proletarierherkunft, dem bildungsfernen Elternhaus und dem ständigen Mobbing, dem er als Homosexueller ausgesetzt war.
In "Anleitung ein anderer zu werden" vertieft er die Geschichte einer spektakulären Persönlichkeitsentwicklung und dankt den Menschen, die ihm dies ermöglicht haben. Denn "gerettet" haben ihn viele vor dem vorgezeichneten Weg in die Fabrik: die Jugendfreundin, die ihn zu einer höheren Schulbildung animierte, deren Mutter, die ihm bürgerliche Tischmanieren beibrachte, die Bibliothekarinnen, die ihn in die Bücherwelt begleitet haben und natürlich Didier Eribon ("Rückkehr nach Reims"), der einen ähnlichen Weg vollzogen hatte und vom Rollenmodell zum Freund wurde.
"Ich hatte keine Kindheit gehabt, sondern die Kindheit einer bestimmten Klasse", schreibt Louis rückblickend. Der Entwicklungsprozess ist ein schmerzhafter, denn Louis bleibt auf jeder Station ein Außenseiter. Kaum bereichert er sein Vokabular, entfremdet ihn dies noch mehr von seiner Mutter, die sich über ihn lustig macht: "Er redet wie ein Arzt."
"Nichts von dem, was ich bis dahin gelernt hatte, war gut genug", schreibt Louis
Andererseits ist er besessen von der Idee, einem uneinholbaren Bildungsrückstand hinterherzulaufen und schraubt seinen Lektürekonsum von null auf zweihundert Bücher pro Jahr. Was für andere selbstverständlicher Teil der Entwicklung war, muss Louis sich mit zigfacher Energie aneignen: "Nichts von dem, was ich bis dahin gelernt hatte, war gut genug", schreibt er, als es ihm gegen jede Wahrscheinlichkeit gelungen war, einen Studienplatz an einer Pariser Eliteuni zu bekommen.
"Manchmal denke ich, dass meine Flucht vergeblich gewesen ist"
Er prostituiert sich aus Geldnot, aber auch aus Haltlosigkeit und Neugier, wacht in Wohnungen auf, in denen Picassos an der Wand hängen und lernt Menschen kennen, die Wein für mehrere hundert Euro die Flasche trinken.
Nicht einmal Louis' Zähne sind standesgemäß, er wird sie dem gesellschaftlichen Aufstieg anpassen. Die schmerzhafte Metamorphose geht nicht spurlos an ihm vorbei: "Manchmal denke ich, dass meine Flucht vergeblich gewesen ist, dass ich um ein Glück gekämpft habe, das ich nie gefunden habe."
Édouard Louis' schonungslose Analyse einer Selbstfindung ist bewegende Literatur, aber man würde dem Autor auch wünschen, dass er nun ein anderes Thema findet.
Édouard Louis stellt "Anleitung ein anderer zu werden" (Aufbau, 272 Seiten, 24 Euro) am heutigen Dienstag (27. September 2022) um 20 Uhr im Literaturhaus vor.
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