Edgar Selges literarisches Debüt: Auf eigenen Spuren

Mit kindlicher Neugierde darf die Leserschaft dieses Buches in die Privatsphäre einer Familie spicken, wie durch ein Schlüsselloch. Und tatsächlich: Einmal blickt der kleine Edgar durch ein eben solches.
Edgar Selge: Sein Vater leitete eine Jugendstrafanstalt
Das Bild im Innern ist für ihn dadurch in der Form einer "Mensch-ärger-dich-nicht-Figur" gerahmt, was zum Assoziationsspielraum eines Kindes ja gut passt. Man ist also dicht an ihm dran, dem 12-Jährigen, dessen Perspektive der 73-jährige Schauspieler und nun auch Schriftsteller Edgar Selge einnimmt.
Was der Junge drinnen sieht, das ist sein Vater, der ebenfalls Edgar heißt und eine Jugendstrafanstalt in der nordrhein-westfälischen Stadt Herford leitet. Ein recht guter Pianist ist der Vater, hat insgesamt eine starke musikalische Ader. So viel Talent und künstlerischen Ehrgeiz wie sein eigener Vater, der einst sogar "Königlicher Musikdirektor" in Berlin wurde, hat er aber nicht.
Stattdessen lebt er seine Leidenschaft in regelmäßigen Hauskonzerten aus, die er mit einem Profi-Geiger aus Hamburg an seiner Seite gleich doppelt gibt: vormittags vor den jungen Gefängnisinsassen, abends vor dem Freundeskreis.
Die Mutter, eigentlich auch eine gute Klavierspielerin, darf ihm beim Spielen die Noten umblättern, was schon einiges über die Beziehung der beiden aussagt. Im Zimmer nun, vor dem Hauskonzert, legt der Vater seine Hand, sich unbeobachtet fühlend, auf den Deckel des Flügels und verneigt sich vor einem unsichtbaren Publikum. Der heimlich schauende Junge staunt, wobei vor allem der Leser aufgerufen ist, diesen Moment zu deuten. Womöglich sehnt sich der Vater vor allem nach Applaus?
Edgar Selge schreibt in einem präzisen, leichten, eleganten Stil
In seiner eigenen beruflichen Karriere als Schauspieler, auf der Bühne wie vor der Kamera, sollte Edgar Selge eines Tages viel Anerkennung bekommen. Mit "Hast du uns endlich gefunden" legt er nun auch noch ein beachtliches literarisches Debüt vor. Vielleicht lernt ja jeder Schauspieler im Laufe der Jahre so viele wohlgeformte Sätze und klug formulierte Metaphern auswendig, eignet sich dabei einen so reichhaltigen Wortschatz an, dass er am Ende mehr oder minder auch das Zeug zum Schriftsteller hat?
Selge jedenfalls schreibt in einem präzisen, leichten, eleganten Stil, formuliert mit trockenem Witz und musikalischem Sprachgefühl, so dass man sein Buch in wenigen Lesesitzungen verschlingt. Allein die Anordnung der einzelnen Kapitel wirkt nicht unbedingt zwingend.
Einen stringenten Plot spinnt Selge nicht, womit er aber im Grunde auch den fragmentarischen Charakter von Erinnerungen angemessen widerspiegelt. Weder als Autobiographie noch als Roman ist das Buch gekennzeichnet, eine Genrebezeichnung fehlt. Obwohl es starke Parallelen zu Selges Leben aufweist, sollte man sein Debüt wohl besser als Fiktion lesen. Schließlich verschwimmt im Gedächtnis sowieso alles, was einst geschah.
Edgar Selge: Schon früh der Faszination des Kinos erlegen
Zudem ist der junge Selge von Grund auf fantasiebegabt, biegt sich gerne die Realität zurecht. Er selbst spricht von einem "Hang zur Unaufrichtigkeit", was ihn immer wieder in die Bredouille bringt, weil seine Vergehen meistens später von den Eltern entdeckt werden.
Der Faszination des Kinos ist er schon früh erlegen und klaut, um sich die Tickets leisten zu können, Geld aus dem Portemonnaie seines großen Bruders Werner oder aus der Klassenkasse, die er bereitwillig verwaltet. Das Wort "kriminelle Energie" schnappt Edgar einmal von seinem Vater auf - und bekommt es nicht mehr aus dem Kopf.
So kann man doch schon einige Spuren für zukünftige Entwicklungen in dieser Rückschau auf das Leben in den 1960er-Jahren entdecken. Obwohl es dezidiert nicht um die Genese eines Schauspielers geht, lassen sich durchaus gedankliche Brücken zu den späteren Rollen von Edgar Selge schlagen.
Zum einarmigen Ermittler Jürgen Tauber etwa, den Selge von 1998 bis 2009 im "Polizeiruf 110" spielte: ein Polizeibeamter, der der kriminellen Energie in seinen Mitmenschen nachspürte und bei seinen Verhören ein Einfühlungsvermögen an den Tag legte, das auch auf eigene Abgründe schließen ließ.
Edgar Selge: Grund für Realitätsfluchten gab es genug
Der kleine Edgar spielt viel, stellt zum Beispiel im elterlichen Garten die Bombenabwürfe der deutschen Luftwaffe nach. In einem Gespräch mit seinem anderen großen Bruder Martin bezeichnet er diese Gartenschlachten als "zwanghaft". Das Spielen erscheint als verzweifelter Versuch des Kindes, sich der Vergangenheit zu bemächtigen. Oder sich von der Gegenwart wegzuträumen. Grund für Realitätsfluchten gibt es jedenfalls genug für den Jungen: Seine Mutter Signe leidet an einer Magenkrankheit und ist unzufrieden mit ihrem Leben, ihrem Mann, ihren Kindern. Und der Vater prügelt den Jungen, wenn der mal wieder gelogen hat oder die Lateinvokabeln nicht perfekt kann.
Beide Eltern sind am Ende des Zweiten Weltkriegs aus dem ostpreußischen Königsberg nach Westfalen geflüchtet, wo der Vater, ein ausgebildeter Jurist, als Oberregierungsrat in Hamm arbeitete, dann in einem britischen Militärgefängnis in Werl Kriegsverbrecher sorgsam betreute. Anfang der Fünfziger zieht die Familie nach Herford, wo der Vater die Leitung der Jugendstrafanstalt übernimmt. Engagiert kümmert er sich da um die Resozialisation der jungen Straftäter, während er zu Hause seine Söhne züchtigt und sogar sexuell übergriffig wird, wenn er sein steifes Glied gelegentlich an ihnen reibt.
"Hast du uns endlich gefunden": Erstaunliche Schlussfolgerungen in bewegendem Buch
Selge offenbart auch solche Abgründe, erzählt schonungslos vom Antisemitismus seiner Eltern, die sich selbst nach Kriegsende nicht von den Nazis distanzierten. Das gemeinsame Musizieren mit einer jüdischen Familie in Herford eröffnet sich als Möglichkeit der Annäherung, wird aber zum kleinen Debakel. Bei aller Wut, die hervordringt, ist Selges Blick auf die Familie auch zärtlich und verständnisvoll.
Einige Trauerfälle hängen über dem Elternhaus: Von den fünf Söhnen der Selges stirbt einer, Rainer, schon als Kind, als er mit einer Handgranate spielt. Der jüngste im Bunde, Andreas, um den Edgar sich immer wieder kümmern muss, erliegt, gerade mal erwachsen geworden, einer Gefäßerkrankung.
Eine Form der Trauerarbeit - auch das ist Selges Buch, an dem er vier, fünf Jahre lang geschrieben hat, bis in die Corona-Zeit hinein. "Seit sich die Welt so rührend um mich kümmert, seit ich gebeten werde, wegen der Pandemie die Wohnung nicht zu verlassen, zu meinem Schutz, altere ich im Zeitraffer", schreibt er, wohl auch sanft ironisch, und schildert danach einen Traum, in dem er nach seinen verlorengegangen Eltern sucht. In einem Hotelzimmer findet er Spuren von ihnen, entdeckt dann seine Mutter. "Wie schön", sagt sie. "Du hast uns endlich gefunden." Es ist ein erträumter Fahndungserfolg, inmitten der zahlreichen Suchbewegungen und erstaunlichen Schlussfolgerungen in diesem bewegenden Buch.
Edgar Selge: "Hast du uns endlich gefunden" (Rowohlt, 304 S., 24 Euro, auch als E-Book und als Lesung. Am 23. November, 20 Uhr, liest Selge im Schauspielhaus der Kammerspiele (Moderation: Sabine Dultz), ausverkauft. Restkarten evtl. an der Abendkasse