Hegel: Die vernünftige Wirklichkeit
Philosophie sucht nicht nach Schönheit, sondern nach Wahrheit. Doch manchmal glücken den großen Denkern wirklich schöne Sätze. "Die Eule der Minerva beginnt erst mit der einbrechenden Dämmerung ihren Flug", schrieb der heute vor 250 Jahren geborene Georg Wilhelm Friedrich Hegel in der Einleitung zu seiner Rechtsphilosophie.
Das nachtaktive Tier ist seit der Antike das Symbol für die Weisheit. Was Hegel mit diesem Bild schildert, ist die eigentümliche geschichtliche Situation, in der sich die Philosophie zu seiner Zeit befindet.
Und das ist gewiss nicht am hoffnungsvollen Beginn eines Tages, an dem alles möglich scheint. Hegel ist sich bewusst, am Ende einer philosophischen Ära zu stehen, deren Vertreter von vielen heutigen Denkern auf eine Stufe mit Platon und Aristoteles gestellt werden: dem Deutschen Idealismus.
Was dieser Begriff genau bedeutet, ist strittig; offenbar spielt dabei ein Ideal eine wesentliche Rolle im Gegensatz zur unfertigen, oftmals ärgerlichen Realität. Auf den Namen kommt es aber weniger an als auf den philosophiegeschichtlichen Hintergrund: Alle Denker dieser Richtung berufen sich auf Immanuel Kant, der mit seiner 1781 erschienenen "Kritik der reinen Vernunft" eine tiefgreifende "Revolution der Denkart" ausgelöst hatte.
Am Anfang war Kant
Deswegen müssen Texte über Hegel mit Kant beginnen: Weil der um ein halbes Jahrhundert ältere Königsberger das Denken auf spektakuläre Weise umstürzte und auf neue Fundamente stellte. Nach Kants revolutionärer Tat konnte die Philosophie, wenn sie nicht naiv werden wollte, ihre wichtigsten Gegenstände wie Gott, Natur oder das Problem der Freiheit nicht mehr einfach für sich genommen untersuchen.
Vielmehr sollte sich die Philosophie auf ihre eigenen Erkenntnisvermögen besinnen, und die Bedingungen der Möglichkeiten von Vernunft überhaupt zu bestimmen. Das ist der Hauptgedanke von Kants "kritischem Geschäft". Seine grundlegende Erkenntnis dabei war, dass die Gegenstände der Welt nie an und für sich betrachtet werden können, sondern immer nur in Bezug auf eine Instanz, die sie erfährt und erkennt: das Subjekt.
Die Pointe Kants war, dass die Dinge an und für sich nichts sind, sondern nur in Bezug auf das erkennende Subjekt, den Menschen, Bedeutung erhalten. Da dies nur über Erfahrung möglich ist, zog Kant einen mutigen Schluss: Die Gottesbeweise, die jahrhundertelang unhinterfragt gegolten hatten, erklärte er für unzulässig; als bloß endliche Vernunftwesen können wir von Gott nichts wissen, uns bleibt nur die freie Tat des Glaubens.
An solchen Einsichten, wie Kant sie gewann, kam nach ihm niemand mehr vorbei. Es ist eines der erstaunlichsten Phänomene der ganzen Philosophiegeschichte, dass die ihm nachfolgende Generation junger Denker nicht das tat, was man aus heutiger Sicht vielleicht erwarten würde: nämlich, Kants erst einmal gründlich zu studieren.
Die philosophische Jugendbewegung
Die neuen Originalgenies Fichte, Hegel und Schelling lasen erst ein bisschen Kant und gingen gleich daran, sein System zu vollenden, gar zu überbieten. Man hat zu Recht darauf hingewiesen, dass der Deutsche Idealismus eine Jugendbewegung war: mit Fichte als dem Ältesten, gefolgt vom acht Jahre jüngeren Hegel und dem noch einmal fünf Jahre jüngeren Feuerkopf Schelling.
Der alte Kant, der noch lebte, als seine selbsterklärten Nachfolger ihre ersten Werke vorlegten, hatte zwar mit einigem Recht geglaubt, alle Fragen mehr oder weniger beantwortet zu haben. Doch die jüngeren sahen weiterhin Gesprächsbedarf – was den Alten nicht nur amüsierte.
Für Hegel ist charakteristisch, dass er kurz nach der Jahrhundertwende 1800 in seiner ersten größeren Publikation, der sogenannten "Differenz"-Schrift, Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen Fichte und Schelling zusammenfasste und sich dann wirkmächtig als deren Vereiniger und Vollender empfahl.
Das Wahre ist das Ganze
In seinem ersten Hauptwerk, der 1807 erschienenen "Phänomenologie des Geistes", lieferte Hegel nicht weniger als eine vollständige Erzählung, wie sich der "Geist", das philosophische Bewusstsein, in seiner Ganzheit entwickelt – von den Anfängen der Wahrnehmung über das Bewusstsein seiner selbst bis hin zu den sublimsten Spekulationen über die höchsten Dinge, die der Geist denkend hervorbringen und aufnehmen kann: Philosophie, Kunst und Religion.
In diesem Lichte muss man eines der berühmtesten Zitate Hegels lesen: "Das Wahre ist das Ganze", zu finden in der Vorrede der "Phänomenologie": Wahrheit ist nicht als einmalige, blitzartige Erkenntnis zu haben, sondern ausschließlich im denkerisch tätigen Nachvollzug der vielfältigen Bewegungen des Geistes als Ganzem, als beständiges Arbeiten am Begriff gleichsam.
Die Dialektik
Denken als die Grundtätigkeit des Geistes befindet sich immer in Bewegung. Geist ist nicht, sondern er wird. Auf diesem Weg gibt es ein Vorlaufen und ein Zurückgehen, auch Umwege und Irrgänge: Hegels Vorstellung der Bewegung der "Dialektik" als dem Zusammenfallen von Gegensätzen und dem überraschenden Umschlagen einer Eigenschaft in ihr Gegenteil – so, wie etwa übersteigerte Schönheit hässlich werden oder Lust in Schmerz verkehrt werden kann.
Herr und Knecht
Hegel hat diese verschiedenen Wege des Denkens in berühmte Bilder gefasst. Das von "Herrschaft und Knechtschaft" schrieb sogar Geschichte. Meist wird diese Überschrift aus der "Phänomenologie des Geistes" verkürzt als "Herr und Knecht" zitiert und damit vorschnell politisch gedeutet.
Folgenreich war die wirtschaftskritische Lektüre dieses Kapitels durch Karl Marx und Friedrich Engels. Marx fasste Herr und Knecht gewissermaßen als Figuren in einem utopisch-prophetischen Sozialdrama auf, in welchem sich der Knecht von der Unterdrückung durch den Herrn befreit und vorzementierte Klassenverhältnisse umkehren oder zumindest ausgleichen lassen. Die Schriften von Marx und Engels hatten einen großen Einfluss auf die sozialistischen und kommunistischen Politikentwürfe.
Dies dürfte Hegel aber kaum im Sinn gehabt haben. Hegel ist Philosoph, nicht politischer Akteur, weder Revolutionär noch Reaktionär. "Herrschaft" und "Knechtschaft" sind vielmehr Bilder für Funktionsweisen des Selbstbewusstseins des Menschen, das einerseits knechtisch auf die Welt und die von dieser herrührenden Sinnesereignisse angewiesen ist, andererseits sich von diesen frei zu machen versucht.
Ein Beispiel für Dialektik
In diesem Gleichnis lässt sich die dialektische Denkweise zeigen: Offensichtlich ist zunächst einmal der Knecht vom Herrn abhängig, weil er sich diesem unterwerfen muss. Doch der Herr arbeitet selbst nicht, sondern genießt nur, so, wie etwa frei umherschweifendes Denken sich nicht den Mühen des Erkennens aussetzt. Daher ist bei näherem Hinsehen auch der Herr auf die Arbeit des Knechtes angewiesen.
Es ist wie mit der Freiheit: Wer keinerlei Verpflichtungen eingeht, sich etwa gegenüber Familie und Freunden verantwortungslos zeigt, ist zwar absolut frei, wird aber einsam werden und verkümmern. Und ist man frei, wenn man aus Einsamkeit nicht heraus kommt? Reine Dialektik.
Solche Beispiele von Dialektik erlebt jeder Mensch in seinem Leben. Wer sie erkennt, wandelt bereits auf den Spuren idealistischer Philosophie.
Hegel hat in seinem Werk gezeigt, wie solche Denkstrukturen im Geist wirken, gleichzeitig aber auch verfolgt, wie diese dann auf die Welt stoßen, die Außenwelt mit ihren Naturdingen etwa oder auch die soziale Umwelt mit anderen Geisteswesen – unseren lieben Mitmenschen. Vernunft und Welt wirken nicht etwa mechanisch zusammen, so, als ob Vernunft Welt nur erkennen würde.
Vernunft
Vielmehr soll Vernunft immer danach streben, sich zu verwirklichen. In diesem Sinne ist das berüchtigte Zitat aus der späten Rechtslehre Hegels zu verstehen: "Was vernünftig ist, das ist wirklich; und was wirklich ist, das ist vernünftig".
Der Münchner Philosoph Günter Zöller hat jüngst in seiner klaren Einführung in Hegels Philosophie erläutert, dass damit nicht etwa eine "zynische Bejahung des Status quo" gemeint ist, so, als ob etwa prekäre Verhältnisse in Wirtschaft oder Politik einfach hinzunehmen seien. Vielmehr sei "eine von Vernunft geschiedene, unvernünftig verfasste Wirklichkeit für Hegel keine eigentliche Wirklichkeit". Anders gesagt: Schlechte Politik, die etwa Rechtsansprüche missachtet oder gar menschenverachtend wird, kann nicht vernünftig genannt werden.
Gleichzeitig aber kann und soll sich Vernunft nicht von der Wirklichkeit abkoppeln, sich etwa in utopischen Träumereien ergehen – oder resigniert zurückziehen. Auch diese Gefahr sieht Hegel am Ende des großen idealistischen Diskurses, als dessen Vollender er sich erfolgreich inszeniert: quasi als Eule der Minerva, die am Ende einer Ära ihren Geistesflug beginnt.
Günter Zöller, "Hegels Philosophie. Eine Einführung", Beck Wissen, 123 Seiten, 9,95 Euro
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