Kritik

"Die Frauen waren Freiwild"

Nicole Seifert erzählt in "Einige Herren sagten etwas dazu - Die Autorinnen der Gruppe 47" die Geschichte der deutschen Nachkriegsliteratur neu
von  Anne Fritsch
Eine der wenigen anerkannten weiblichen Stimmen in der Gruppe 47. Ilse Aichinger mit Heinrich Böll (links) und Günther Eich, aufgenommen während einer Tagung 1952.
Eine der wenigen anerkannten weiblichen Stimmen in der Gruppe 47. Ilse Aichinger mit Heinrich Böll (links) und Günther Eich, aufgenommen während einer Tagung 1952. © picture alliance / dpa

Es ist eine Entzauberung. Eine nötige Entzauberung. Denn nach der Lektüre von Nicole Seiferts Buch "Einige Herren sagten etwas dazu - Die Autorinnen der Gruppe 47" ist der Blick auf die als ikonisch wahrgenommene Gruppe nicht mehr derselbe.

Die Gruppe 47, das war doch ein Neuanfang nach Nazi-Deutschland und dem Zweiten Weltkrieg, ein nötiger Kahlschlag und der Beginn dessen, was wir als zeitgenössische Literatur verstehen. Allerdings, und das wird eben bei der Lektüre bewusst, war diese Gruppe eben auch eine extrem männerdominierte, immer wieder chauvinistische, in der weiblichen Autorinnen kaum Raum gegeben wurde, in der sie kleingehalten wurden und eher auf ihre äußerlichen Reize denn auf ihre schriftstellerischen Kompetenzen geachtet wurde.

"Schöne Mädchen für das Fest"

Nicole Seifert schreibt die Geschichte der Gruppe nun neu, von ihren Anfängen 1947 bis zu ihrer Auflösung zwanzig Jahre später. Sie beleuchtet die einzelnen Treffen der Gruppe, bei denen viele Autoren und wenige Autorinnen eingeladen wurden, aus ihren Texten zu lesen, die anschließend diskutiert, gelobt oder verrissen wurden. Sie rückt die jeweils eingeladenen Autorinnen in den Fokus, schreibt ihre Geschichten und Biografien auf, die in der offiziellen Geschichtsschreibung der Gruppe kaum vorkommen. Sie zeigt einen Kampf um Sichtbarkeit in einem männlich dominierten Literaturbetrieb, erzählt von Herabwürdigungen, Beleidigungen, Beschämungen und Übergriffen. So bestellte Hans Werner Richter, Initiator der Gruppe, beispielsweise für das Treffen 1962 bei Gastgeber Walter Höllerer "schöne Mädchen von 15 bis 45 für das Fest", während er "einen ganzen Stoß Ehefrauen" ausgeladen habe, weil sie ihn "mit ihren gekreuzten Butterbeinen" in seinem Halbschlaf stören würden. Die Autorin Elisabeth Plessen, die 1967 eingeladen war, beschrieb die Atmosphäre beim Treffen wie folgt: "Die Frauen waren eigentlich Freiwild zu dieser Zeit. Sie hatten den Mund zu halten und mit ins Bett zu gehen, auch bei den gleichaltrigen Männern. Dagegen gab es keinen Aufstand."

Die Literaturwissenschaftlerin Nicole Seifert.
Die Literaturwissenschaftlerin Nicole Seifert. © Katja Scholtz

Die Autorinnen wurden reduziert auf ihr Äußeres, beschrieben als Nymphen, Königinnen, Hexen. Nicht als Schriftstellerinnen. Wenn über sie geschrieben wurde, dann eher über ihr Auftreten und Aussehen als über ihr Schreiben. In den ersten 15 Jahren der Gruppe lasen 48 Männer und lediglich sieben Frauen. Viele von ihnen wurden in den Dokumentationen gänzlich weggelassen oder auf weiblich anerkannte Rollen wie die der Ernährerin der Männer reduziert. So schrieb Richter 1947 über Ilse Schneider-Lengyel: "Sie fährt auf einem alten Motorrad einen Sack Kartoffeln heran, schwarz in Füssen besorgt, fängt immer wieder Fische auf dem See und versucht uns, so gut es in dieser Zeit geht, zu ernähren." Dass sie selbst auch Texte geschrieben und vorgelesen hat, wird nicht erwähnt.

Was eine Frau schreibt, ist Frauenliteratur 

Nicole Seifert nun hat intensiv recherchiert, um all diese nicht erzählten und nicht in den Kanon eingegangenen Autorinnen und ihre Werke im Nachhinein zu würdigen. Manch einer der von ihr vorgestellten Romane weckt Interesse, nicht selten aber sind sie vergriffen, werden nicht mehr aufgelegt.

Ilse Aichinger und Ingeborg Bachmann sind die, die bis heute bekannt sind, Gabriele Wohmann war eine Zeit lang bekannt, Gisela Elsner wurde vor ein paar Jahren noch einmal kurz wiederentdeckt. Viele der Namen aber - Ruth Rehmann, Ingrid Bachér, Ingeborg Drewitz, Barbara König, oder Christa Reinig - sind mehr oder weniger vergessen. Die Herren der Gruppe 47 fingen schnell an zu unterscheiden zwischen Literatur und "Frauenliteratur", was sie wie folgt verstanden: Wenn ein Mann über Männer schreibt, ist das Literatur. Wenn eine Frau über Frauen schreibt, ist das "Frauenliteratur". Oder vielleicht sogar so: Was ein Mann schreibt, ist Literatur. Was eine Frau schreibt, ist "Frauenliteratur".

Viele der Autorinnen konnten nicht das Leben leben, das sie sich wünschten, konnten nicht schreiben, wie sie wollten. Weil die Gesellschaft anderes von ihnen verlangte. Einige haben das Schreiben aufgegeben, andere sich selbst. Sie haben sich umgebracht.

Dieses Buch ist die Geschichte be- oder gar verhinderter Karrieren, vertaner Chancen auf neue und spannende Stimmen in der Literatur. Am Ende bleibt die eine große Frage: Was haben wir verpasst? Nicole Seifert beantwortet sie so: "Es bleibt der Eindruck, dass uns Großes entgangen ist."

Nicole Seifert stellt "Einige Herren sagten etwas dazu" (Kiepenheuer & Witsch, 352 Seiten, 24 Euro) am 2. Oktober um 19 Uhr im Literaturhaus vor (Salvatorplatz 1)

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