Was nach dem Bestseller "Brooklyn" geschah

In seinem Roman "Brooklyn" erzählte der irische Autor Colm Tóibín von der jungen Eilis, die in den 50er Jahren von der irischen Ostküste nach Amerika auswandert, unter Heimweh leidet, aber den italienischstämmigen Tony heiratet. Für die Beerdigung der Schwester kehrt sie in die alte Heimat zurück und verbringt viel Zeit mit Jim, der nichts von ihrer Verbindung weiß.
Saoirse Ronan war hinreißend
Eilis steht vor einer dramatischen Entscheidung und entschließt sich für die Rückkehr in die USA, ohne sich mit Jim auszusprechen. John Crowley verwandelte die herzerwärmende Romanvorlage 2015 in einen ebenso stimmigen Film mit einer hinreißenden Saoirse Ronan in der Hauptrolle.
"Er habe sich nie vorstellen können, eine Fortsetzung zu schreiben", erklärt Colm Tóibín, aber genau diese liegt nun mit "Long Island" vor. 20 Jahre sind seit "Brooklyn" vergangen und Eilis' Leben steckt in einer Sackgasse. Denn dort stehen die vier Häuser von Tony, seinen Brüdern und seinen Eltern. Eilis ist Mutter zweier Kinder, arbeitet als Buchhalterin in einer Autowerkstatt und wird urplötzlich aus allen Gewissheiten gerissen als ein Unbekannter vor der Tür steht und ihr erklärt, Tony habe ein Kind mit seiner Frau gezeugt. Sobald es geboren sei, werde er es bei Tonys Familie abliefern. Tony, Klempner von Beruf, ist kein Mann großer Worte und will nur, das alles so bleibt, wie es ist. Und als die italienische Familie hinter Eilis' Rücken beschließt, dass das Baby von Tonys Eltern aufgezogen wird, fühlt sich Eilis isolierter denn je.
Um Zeit zu gewinnen, beschließt sie, zum 80. Geburtstag ihrer Mutter zurück nach Enniscorthy zu fahren (übrigens auch Colm Tóibíns Heimatstadt). Zwei Jahrzehnte lang hat sie nur Briefe in den Südosten Irlands geschickt, nun fiebert sie einer Neujustierung ihrer Selbst in der alten Heimat entgegen.

Dass Jim, der nie über Eilis' Abreise hinwegkam, seit kürzerer Zeit eine äußerst heimliche Liasion mit Eilis' bester Freundin Nancy begonnen hat und sogar einer baldigen Hochzeit nicht abgeneigt ist, würde man anderen Autoren vielleicht nicht verzeihen. Aber Colm Tóibín ist der Meister des psychologischen Einfühlungsvermögens und ein brillanter Gestalter seiner Figuren, die nie ihre Plausibilität verlieren.
Drei sind eine zuviel
Und so taucht der Leser gebannt ein in ein dramatisches Versteckspiel der Gefühle, denn in der tratschsüchtigen Kleinstadt wissen natürlich alle, warum der Pub-Betreiber Jim nach Eilis' urplötzlicher Abreise nie eine neue Frau gefunden hatte. Er hatte sie gar nicht gesucht.
Aber was machen die Jahrzehnte mit alten Gefühlen? Und wer von den drei nicht sonderlich ehrlich miteinander umgehenden Protagonisten hat überhaupt persönliches Glück verdient? Nancy erzählt Eilis nichts von ihrer neuen Liebe zu Jim, Eilis verheimlicht ihre Treffen mit Jim, während dieser sein gegebenes Heiratsversprechen verschweigt.
Das Unausgesprochene treibt die Spannung - und bisweilen auch die Komik - im zweiten Teil des Romans gewaltig voran. Größer allerdings ist nur die Angst des Lesers, dass Colm Tóibín nach "Brooklyn", "Nora Webster" und "Long Island" nicht mehr zu den so liebgewonnenen Menschen aus seinem literarischen Enniscorthy zurückkehrt.
Colm Tóibín stellt "Long Island" (Hanser, 320 Seiten, 26 Euro) am 21. Juni 2024 um 19 Uhr im Literaturhaus vor