"Der Staat streift seine Samthandschuhe ab": Von Venedigs Dekadenz lernen

Peter Sloterdijk zieht in dem Gesprächsband "Der Staat streift seine Samthandschuhe ab" eine vorläufige Bilanz der Pandemie.
Robert Braunmüller
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Die Tapisserie "Peter Sloterdijk vor der heiligen Inquisition des Trivialgeschmacks" von Margret Eicher war 2012 bei einer Ausstellung im Badischen Landesmuseum im Karlsruher Schloss zu sehen.
Die Tapisserie "Peter Sloterdijk vor der heiligen Inquisition des Trivialgeschmacks" von Margret Eicher war 2012 bei einer Ausstellung im Badischen Landesmuseum im Karlsruher Schloss zu sehen. © Uli Deck/dpa

Der Titel und das Zitat auf dem Rücken spekulieren eindeutig auf Käufer aus der coronakritischen Ecke. Die könnten aber womöglich enttäuscht sein. In seinen Interviews und Texten aus der Lockdown-Ära zwischen dem März 2020 und dem gleichen Monat des Folgejahres erweist sich Peter Sloterdijk als vergleichsweise temperierter Kritiker staatlicher Maßnahmen.

Nur ganz zu Beginn hat der Philosoph in einem Interview mit einer französischen Zeitschrift etwas schärfer argumentiert. Später nennt er das Gerede vom "Corona-Terror" ein "Beispiel für ungekonntes Übertreiben". Die titelgebende Passage vom Staat, der die Samthandschuhe abstreife, stammt aus einer Passage, in der sich Sloterdijk mit Positionen seines Kollegen Giorgio Agamben auseinandersetzt. Und da geht es vergleichsweise abstrakt um dass Prinzip des Ausnahmezustands.

Philosoph spielt mehr die Rolle des distanzierten Beobachters

Der Philosoph spielt angesichts der aufgeregten Aktualität mehr die Rolle des distanzierten Beobachters. Bezeichnend dafür ist das eigenes für das Buch geführte Gespräch mit René Scheu. Der kürzlich ausgeschiedene Feuilleton-Chef der "Neuen Zürcher Zeitung" versucht Sloterdijk übereifrigt auf eine Kritik an allzu übertriebenenen staatlichen Maßnahmen festzunageln. Er bringt so seine libertäre Kritk an übertriebener staatlicher Fürsorge in dem Buch unter. Aber sein Gesprächspartner bleibt auf höflicher, freundschaftlicher Distanz.

Weil Sloterdijk in den späten Siebzigern ein Anhänger Bhagwans war und sich in Poona aufhielt war, hat er ein sehr feines Gespür für alles Sektiererische in der Querdenkerei. Wie in diesen Jahren liege auch heute eine "Neigung zur Konversion gegen das Gewöhnliche" in der Luft. "Jetzt wie damals wollen viele nicht glauben, daß die Vernunft bei der Mehrheit ist", heißt es im wohl besten Gespräch des Buchs, das Peter Unfried und Harald Welzer für eine Beilage der "taz" mit ihm führten.

"Wenn man sich klar macht, wie fragil die Lebensformen der Freiheit sind"

Sloterdijk hält nichts vom bedingungslosen Grundeinkommen und noch weniger von Forderungen, die mit "wir brauchen" beginnen: "Weil man entweder etwas tut oder es lässt." Er betont zwar, dass politisch Erwachsene "die Stellung halten" sollten: "Wenn man sich klar macht, wie fragil die Lebensformen der Freiheit sind, darf man keinen Meter zurückweichen." Aber im Zweifel legt er sich eher ungern fest. Meist siegt sein Wille zur zugespitzten, geistreichen Pointe über eine klare Aussage, was zwar Spaß macht, aber auch unverbindlich bleibt.

Der Philosoph sagt Vernünftiges, aber nicht sonderlich Originelles zu Donald Trump und entwickelt eine nicht leicht auf den Punkt zu bringende Theorie zur Staatsverschuldung. Er empfiehlt Humor als "staatsbürgerlichen Impfstoff" und bekennt sich zur Heuchelei als zivilisatorischer Tugend: "Ich würde bespielsweise in Gegenwart von Muslimen nie die These äußern, der Islam sei eine primitive Variante des spätantiken Christentums, die am Verständnis der Trinität gescheitert war."

Ein großes Interview mit "Bild" zwingt den zum Wolkigen neigenden Sloterdijk zur Klarheit. Und beruhigend ist auch zu lesen, dass Sloterdijk trotz des wirtschaftlichen und politischen Aufstiegs Chinas für Europa Entwarnung gibt: Venedig habe nach der Entdeckung des Seewegs nach Indien Verlegung der Handelsrouten, die ein halbes Jahrtausend seinen Reichtum garantierten, weitere 500 Jahre in einer "glänzender Dekadenz" weitergelebt, die bis heute andauere. Und das sind Aussichten, mit denen man gut leben kann.


Peter Sloterdijk: "Der Staat streift seine Samthandschuhe ab. Ausgewählte Gespräche und Beiträge 2020-2021" (Suhrkamp, 200 S., 18 Euro)

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