"Der letzte Sommer in der Stadt": Bars, Himmel und Höllensturz in Rom
Er ist einer, "der alles tut, um sich rauszuhalten" - und sich in den Fallstricken des Lebens verheddert: Leo Gazzarra, Hauptfigur und Ich-Erzähler in Gianfranco Calligarichs Rom-Roman "Der letzte Sommer in der Stadt".
1973 erschien das Buch, wurde gefeiert - und ging in der Fülle der jährlichen Neuproduktion wieder unter. Wie sein Protagonist wuchs Calligarich (geboren 1947 in Äthiopien) in Mailand auf und zog als junger Journalist und Drehbuchautor nach Rom, wo er später u.a. das "teatro del XX secolo" betrieb.
Die deutsche Ausgabe bewirbt eine Liebesgeschichte zwischen "La dolce vita" und "La grande bellezza". Aber anders als bei Fellini ist die Kapitale hier wenig glamourös. Sorrentino wiederum dürfte das Buch gekannt haben, als er 2013 seinen Film drehte.
Leo, der zu Beginn seinen 30. Geburtstag vergisst, scheint nach dem Motto zu leben "Du hast tausend Chancen, also lass' sie dir alle entgehen". Als Journalist hält er sich mehr schlecht als recht über Wasser und strukturiert den Tag mit dem Besuch von Bars und Lokalen, in der Hoffnung einen Bekannten zu treffen, der ein paar Drinks oder ein Abendessen spendiert.
Eine sprunghafte Love Story zweier verlorener Seelen
Gazzarra bedeutet "Spektakel", er ist wie Falcos "Junge Römer" im Hit von 1984: "Fragt nicht nach neuen alten Werten. Seht weißes Licht, seht nur Gefühl. Die Nacht gehört uns bis zum Morgen. Wir spielen jedes Spiel." Als Leo auf einer Party Arianna kennenlernt, meint er, sein Leben neu ausrichten zu können. Sie ist eine völlig haltlose junge Frau, die ihre Schönheit dazu nutzt, Männer zu manipulieren. "Frech" und "hysterisch" nennt der Ich-Erzähler sie - was sich 130 Jahre nach Freuds Hysterie-Studien eher abgeschmackt liest. Verfallen ist er ihr dennoch. Dass Leo nach ihrer ersten Nacht hemmungslos zu heulen anfängt, zeichnet ihn dagegen fast als modernen Mann aus. Es entspinnt sich eine sprunghafte Love Story zweier verlorener Seelen, die zwischen Theater und Tennis-Court, Salon und Strandbar durchs Leben treiben: "Wieder landeten wir in meinem Bett und verausgabten uns in Zärtlichkeiten, bis uns die Morgenröte fand, eng und umschlungen und reglos wie zwei Meeresfrüchte."
Leo kämpft währenddessen gegen zwei Dämonen: Depression und Alkohol. Seine kontinuierlichste Tätigkeit - außer die Lektüre von Klassikern des 20. Jahrhunderts - besteht darin, mit dem Trinken aufzuhören und "die Segel zu setzen" - also sich in brenzligen Situationen aus dem Staub zu machen. Beiseite steht ihm dabei der im Absturz nicht minder begabte Graziano, Experte für Tandem-Drinks (Bier und Scotch) und mit einer reichen Amerikanerin verheiratet.
Gnadenlos und geschliffen sind die Skizzierung der High-Society-Komparserie und die Dialoge: Der Sarkasmus von Leo, Arianna und Graziano ist so treffend, wie er nur aus dem Mund derer klingen kann, für die das Dasein hoffnungslos, aber nie ernst ist. Auf die Frage, was sie heute getan habe, antwortet Arianna, sie habe "rote Blutkörperchen produziert, reicht das nicht?".
Und Leos innere Zustände spiegeln sich im Himmel über Rom: Im Mai herrscht ein "ägyptischer Himmel ohne eine Wolke", im August ist die Stadt unter einer "mörderischen Sonne wie ausgestorben" und kurz vor Weihnachten leuchtet der Himmel "herzzerreißend".
Die totale Zertrümmerung des Dolce-vita-Klischees
Die Faszination von "Der letzte Sommer in der Stadt" liegt in der totalen Zertrümmerung des Dolce-vita-Klischees. Gianfranco Calligarich schreibt den Abgesang des süßen Lebens als rastlose Suche nach verlorenem Glück, grundiert mit dem 2. Weltkrieg als Katastrophe des 20. Jahrhunderts, "als das alte, schöne Europa seine klarsten, gründlichsten und endgültigen Selbstmordversuch hinlegte".
Nach Grazianos trostloser Theorie ist ihre Generation kaputt, weil ihre Väter kaputt aus dem Krieg zurückkamen, und kaputte Söhne gezeugt haben. Darum geht es im Roman auch um gedanklichen Vatermord.
Was die Lektüre dieser römischen Elegie nicht zuletzt lohnt, ist die atmosphärisch dichte Beschreibung der Ewigen Stadt - und ihrer Verkommenheit. Leos Habitat liegt zwischen Trastevere und Trinità dei Monti, Nabel seiner Welt ist die Piazza Navona.
Die abblätternde Grandezza ist heute, fast 50 Jahre nach Entstehung des Romans, noch immer umwerfend. Im Verfall erweist sich Rom doch als erstaunlich haltbar.
Gianfranco Calligarich: "Der letzte Sommer in der Stadt" (Zsolnay, 208 Seiten, 22 Euro)
- Themen:
- Kultur