Der kleine Gigant: Truman Capote starb vor 40 Jahren

MÜNCHEN Es ist so etwas wie der Heilige Gral der Literatur, zumindest für die Fans von Truman Capote: Hatte er, bevor er am 25. August 1984 im Alter von 59 Jahren starb, noch sein letztes Projekt "Erhörte Gebete" vollendet, wie er manchmal erzählte? Und wo ist es dann? Oder ist es bei dem bekannten Fragment geblieben? Auf dem Totenbett, im Haus seiner Freundin hatte Capote angeblich von einem Manuskript in einem Schließfach gesprochen, das gefunden würde, wenn die Zeit dafür reif sei.
Anuschka Roshani, Herausgeberin der Capote Gesamtausgabe im Kein & Aber Verlag ihres Ehemannes Peter Haag, gelang schon einmal ein Coup, als sie vor einem Jahrzehnt in der New York Public Library auf unveröffentlichte Erzählungen Capotes aus seiner Schülerzeit stieß. Im Sommer 2017 machte sie sich noch einmal auf, um noch lebende Weggefährten Capotes zu interviewen und in den 39 Kisten seines Nachlasses in der Bibliothek vielleicht doch noch auf einen Hinweis zu stoßen.
Ist sein Leben gelungen, oder ist er gescheitert?
Davon handelt ihr Buch "Truboy - mein Sommer mit Truman Capote", dessen Titel ein klein bisschen irreführend ist. Schließlich befasst sich Roshani schon ein Leben lang mit dem Wunderkind der amerikanischen Literatur, der am 30. September vor 100 Jahren geboren wurde.
Normalerweise wäre das vielleicht ein Anlass für eine neue Biografie, im Falle von Capote ist das allerdings unmöglich. Gerald Clarke hat 13 Jahre lang - teils noch zu Lebzeiten Capotes und mit Hilfe des Autors - ein Standardwerk erarbeitet, das niemand mehr toppen kann. "Alles, was ich über Capote weiß, weiß ich durch Gerald Clarke", schreibt Roshani folgerichtig und besucht ihn auch auf seinem Anwesen auf Long Island. Es ist ein Höhepunkt in einer ebenso unorthodoxen wie faszinierenden Annäherung an Capote.

Roshanis Buch beginnt mit einem Kurzabriss von Capotes Leben, einmal erzählt als Chronologie des Gelingens, einmal als Chronologie des Scheiterns. Beide Versionen klingen überzeugend.
Die unstillbare Sehnsucht nach Anerkennung
Roshanis ansteckende Begeisterung für Capote überträgt sich mühelos auf den Leser. Es ist ja auch faszinierend, wie der 1,60 Meter kleine Mann mit der "Robbenbabystimme" alle Welt um den Finger wickelt, obwohl, oder weil - und das ist der Kern jeder Capote-Beschreibung - in ihm eine unstillbare Sehnsucht nach Anerkennung schlummerte.
Truman, ein von der Mutter ungeliebtes Kind, verbrachte in seiner Erinnerung "Jahre eingesperrt in Zimmern", wenn die Mutter ausging. Später schob sie ihn zu Verwandten ab, holte ihn aber Jahre danach zurück nach New York. Er fühlte sich häufig fehl am Platz: zu weich, schön und zart für die Nachbarskinder in den Südstaaten, zu sehr Dorfkind in der zunächst als bedrohlich empfundenen Metropole. Truman entwickelte ernste psychische Störungen. Selbst als Jugendlicher im Alter von fünfzehn Jahren warf er sich noch schreiend und heulend auf den Rücken und strampelte mit den Beinen. "Die Eifersucht ist der Schlüssel zu meinem Charakter", sagte Capote einmal, die Eifersucht und das Gefühl, nicht genug geliebt zu werden. Capote selbst teilte sein Leben in drei Akte ein. Akt eins endete mit "Frühstück bei Tiffany" (1958), Akt zwei mit "Kaltblütig" (1966). Das war der Höhepunkt, von nun an ging es bergab.
Eine rauschende Ballnacht mit schlimmen Folgen
Die Krönung bildet natürlich der mythische Black and White Ball im Plaza Hotel, die Party seines Lebens. 500 Gäste waren Capotes Einladung ins Hotel Plaza in New York gefolgt, 200 Journalisten und Fotografen bestaunten an einem regnerischen Abend des 28. Novembers 1966 das Defilee der Stars: Henry Ford, Lauren Bacall, Frank Sinatra, die Töchter von drei US-Präsidenten, Geldadel, Maharadschas und Hollywoodgrößen huldigten dem kleinen Paradiesvogel mit dem schütteren Haar. Mit 41 Jahren war Capote "Napoleon nach Austerlitz", wie sein Biograf Gerald Clarke süffisant schreibt.
Innerlich allerdings war Capote bereits angezählt. Sechs Jahre lang hatte er für "Kaltblütig" den Mord an einer Farmerfamilie in Kansas recherchiert und die beiden Mörder in der Todeszelle interviewt. Einerseits wollte er ein seiner Meinung nach völlig neues Genre gründen - den dokumentarischen Roman - und brauchte die größtmögliche Nähe zu den Mördern. Andererseits wollte er die objektive Sicht auf den Fall behalten. Der Spagat klappte nicht.

So entwickelte sich die Tragödie eines Autors, die immer enger werdende Beziehung zu dem Mörder Perry Smith. "Es war viel komplizierter als eine Liebesgeschichte: Einer sah den anderen an und erblickte oder glaubte zumindest, er erblicke den Menschen, der aus ihm hätte werden können", schreibt Clarke. Den biografischen Hintergrund dieser abgründigen Affinität zum indianischstämmigen Perry, ein ebenso ungeliebtes Kind wie der Autor, hat Capote so geschildert: "Wir, Perry und ich, sind im gleichen Haus aufgewachsen, nur nahm er die Tür hinten raus, während ich durchs Hauptportal ging."
Das Buch kostete ihn mehr Kraft, als er es sich selber eingestehen wollte. Schon während des Schreibens hatte er seinen Alkohol- und Pillenkonsum stark gesteigert. Und noch etwas plagte ihn untergründig: Er hatte einen Bestseller verfasst (inzwischen sollen es über 15 Millionen verkaufter Exemplare sein), aber die wichtigen Literaturpreise bekamen andere Autoren. Das kränkte ihn unglaublich.
Er fand nicht mehr die Kraft und Disziplin, einen Roman zu vollenden. Den endgültigen Absturz aber besiegelte der Romanauszug "La Côte Basque, 1965", den der "Esquire" Ende 1975 publizierte. Capotes Geschichte über den Jetset basierte natürlich auf Personen, mit denen er den glanzvollen Teil seines Lebens verbracht hatte. Aber der veröffentlichte Auszug wurde wie eine Abschussliste aufgenommen, die Rache war fürchterlich. Plötzlich wurde er, der Liebling der Glamourgesellschaft, von Gästelisten gestrichen, jahrzehntelange Freundschaften starben über Nacht.
"Truman war aufgenommen, verwöhnt und in die innersten Winkel ihres Privatlebens eingelassen worden", schreibt Clarke, "und zum Dank hatte er sich über sie lustig gemacht und ihre Geheimnisse ausposaunt." Capote hatte die Situation völlig falsch eingeschätzt, schrieb Entschuldigungsbriefe und brach im kleinen Kreis in Tränen aus: "Ich wollte niemandem wehtun." Große Teile der High Society in New York verstießen ihn, auch Marella Agnelli in Turin, die ihn mehrfach zu Kreuzfahrten durchs Mittelmeer mitgenommen hatte, verbannte ihn aus ihrem Herzen.
Eine gesprengte Ehe - und eine gerettete Seele
Jack Dunphy, Capotes Lebensgefährte (abgesehen von all den anderen Liebhabern) von 1949 bis zu dessen Tod, sagte, dass Capote nach "La Côte Basque, 1965" nie wieder glücklich gewesen war. Er beschleunigte den Prozess seiner Selbstzerstörung. Sein Leben lang war er zwischen Europa und Amerika hin- und hergereist, nun fuhr er von einer Suchtklinik in die nächste - ohne seinen Drogenkonsum zu beenden. Allein 1983 war er sechzehn Mal im Southampton Hospital.
Doch die Capote-Getreuen, die Anuschka Roshani trifft, liefern auch ein anderes Bild: das eines heiteren, dem Leben zugewandten Menschen, der es nach wie vor liebte, im Mittelpunkt jeder Gesellschaft zu stehen. So besucht sie Kate Harrington, die als eine Art Pflegetochter bei Capote aufwuchs. Dieser hatte sich 1973 in ihren Vater verliebt und kurzerhand die irisch-katholische Familie gesprengt, was sogar die Mutter begrüßte, die auch dann weiter Kontakt zu Capote hielt, als ihr Mann diesen schon wieder verlassen hatte.
"Truman ist mein Held. So komisch das für Sie klingen mag, weil er die Ehe meiner Eltern zerstört hat - er rettete mich", erklärt Kate Anuschka Roshani. Rund 40 Seiten umfasst das Gespräch in "Truboy" und liefert das Bild eines liebevollen und beschützenden Capote, das man so emotional nicht einmal bei Gerald Clarke findet.
Anuschka Roshani birgt zwar ein paar Seiten im Nachlass, die sie mit "Erhörte Gebete" in Verbindung bringt, das gesuchte Manuskript bleibt aber verschollen. Dafür liefert ihr Buch nicht nur faszinierende Gespräche (auch mit dem mythischen Lektor Gordon Lish und dem Künstler Don Bachardy, Lebensgefährte von Chris Isherwood), es entfacht vor allen Dingen die Lust, sich sofort wieder in Capotes Werk zu stürzen.
Anuschka Roshani: "Truboy - mein Sommer mit Truman Capote (Kein & Aber, 352 Seiten, 24 Euro)