Kritik

"Das System Ballett muss immer wieder neu hinterfragt werden"

Der afrokubanische Tänzer Osiel Gouneo kämpft gegen Rassismus in der Ballettwelt
von  Vesna Mlakar
Osiel Gouneo in der männlichen Hauptrolle des Balletts"La Bayadère" in der Choreografie von Patrice Bart nachMarius Petipa im Nationaltheater
Osiel Gouneo in der männlichen Hauptrolle des Balletts"La Bayadère" in der Choreografie von Patrice Bart nachMarius Petipa im Nationaltheater © KatjaLotter

Eigentlich dürfte vieles gar kein Thema mehr sein. Denn biologisch gesehen unterscheidet sich der - oftmals gar nicht so weise - Homo sapiens lediglich durch marginale Dinge voneinander: Augen-, Haut- und Haarfarbe. Letzteres veranlasste Johann Nestroy noch zur erhellenden Gesangsposse "Der Talisman" mit der Hauptfigur des Titus Feuerfuchs. Das war im Jahr 1840. Und weil man den Schilderungen des afrokubanischen Primoballerino Osiel Gouneo in seiner Autobiografie "Black Romeo" Glauben schenken muss, hat sich gegen Ausgrenzung, Diskriminierung und - ja - Rassismus seitdem zu wenig getan - trotz des Pochens auf die europäische Tradition der Aufklärung, die genau in dieser Hinsicht eine intellektuelle Selbstkontrolle des Einzelnen fordert.


Osiel Gouneo ist jemand, der sich was zu sagen traut. Der heute 34-jährige Tänzer - Leading Man des Bayerischen Staatsballetts seit 2016 und mittlerweile selbst Vater - belässt es aber nicht beim bloßen Revuepassieren seines nicht immer einfachen Karrierewegs: vom Studenten an Alicia Alonsos Ballettakademie von Havanna bis zum Principal des Kubanischen, dann des Norwegischen Nationalballetts.

Immer wieder nimmt Gouneo dezidiert Stellung zu Ballettinterna wie der ständigen Verletzungsgefahr, dem Gegensatz von "künstlerischer Kameradschaft" und "artistischer Rivalität auf der Bühne". Er verschweigt auch nicht, dass die Einladung zu Ballett-Galas eine finanziell unverzichtbare Einnahmequelle für Tänzer bedeutet.

Der Alltag auf Kuba ist geprägt von Mangel 

Unbedingt lesenswert flicht er unter anderem seine Haltung zu "Oberflächlichkeit und Gedankenlosigkeit" im zwischenmenschlichen Umgang, zu "Zeitgeist und Deutungshoheit" und zur sogenannten Cancel Culture ins Biografische ein, um schließlich das Fazit zu ziehen: "Das System Ballett muss immer wieder neu hinterfragt werden, damit es sich zum Besseren entwickelt."


Auch in die Alltagsproblematik auf Kuba mit seinem sozialistischen Wirtschaftssystem gewährt Gouneo Einblick. Seine traurige Erkenntnis: "Ob Strom, warmes Wasser, Geld, Wohnung, Perspektiven - in Kuba ist alles Mangelware. Groß sind Frust und Verzweiflung, Sehnsucht und Versuchung, es woanders besser zu haben. Da denken Balletttänzer nicht anders als andere Menschen. Tanz aber ist, ganz sprichwörtlich genommen, immer Fort-Schritt." Und: "Umgekehrt sehe ich es ebenfalls als meine Pflicht an, meine Kunst mit neuen künstlerischen Projekten nach Kuba zurückzubringen, dorthin, wo ich als Tänzer geboren und groß wurde."

Igor Zelensky förderte ihn 

Keineswegs indifferent ist Gouneos Haltung zu Igor Zelensky, seinem Münchner Ex-Ballettchef: "Wie er eine in starren Traditionen feststeckende und programmatisch leicht angestaubte Compagnie neu beleben wollte. Igor wollte eine Elitecompagnie mit weltweitem Renommee und Prestige aufbauen, und dafür würde er viele neue, aufregende Tänzer und Tänzerinnen nach München holen. Entweder als festes Mitglied oder als Gast-Principal oder Gast-Primaballerina. Und das tat er dann auch."


Mit Kopfschütteln kommentiert Gouneo Zelenskys politisch motivierte Vertragsauflösung in München Anfang April 2022 - "in einer Nacht- und Nebelaktion", wie er es nennt: "Wäre Zelensky ein Antisemit oder Rassist, hätte er Geld veruntreut, hätte er öffentlich für den Kriegsherrn Putin und seine Agenda lobbyiert, wäre sein Abgang völlig verständlich. Man mag Zelenskys Stiftungsarbeit zu Recht kritisieren, und dazu sein ungeklärtes Verhältnis zu Putin und seiner Tochter - aber reicht das schon aus? Ich bin kein politischer Mensch, aber ich hielte das für ziemlich dünn." Und weiter: "Er war ein großer Förderer von mir, wahrscheinlich sogar der beste Ballettdirektor, mit dem ich je zu tun hatte. Ohne ihn wäre ich heute nicht in München, ohne ihn wäre aus mir nicht der Tänzer geworden, der ich heute bin."

Der erste dunkelhäutige Romeo 

Deutlich äußert sich Gouneo ebenso zu Themen rund um Blackfacing, Typecasting, kulturelle Aneignung und Rollenbesetzung: "Natürlich war ich stolz darauf, in der ersten Pariser Produktion mit einem dunkelhäutigen Romeo in der Titelrolle dabei gewesen zu sein, aber genau darum sollte es in einer diversen, sensiblen, wahrhaft modernen Kunst ja gerade nicht gehen. Es sollte völlig irrelevant sein, dass auch ein Afro diese Rolle verkörpern kann."


Worauf es Osiel Gouneo ankommt, bringt er so auf den Punkt: "Ich selbst habe inzwischen aufgehört, mein Tun, meine Karriere, meine Kunst durch den Spiegel meiner Hautfarbe zu sehen, obwohl ich sie jeden Tag im Spiegel des Probenraums wahrnehme. Das, was ich sehe, ist nicht der schwarze Mann, nicht der schwarze Künstler; ich sehe vielmehr den Künstler in mir, der sich durch solche Zuschreibungen nicht länger kompromittieren lassen will."

Schade nur, dass - über Spartakus, Gouneos Durchbruch in der bayerischen Landeshauptstadt, und Onegin hinaus - eine seiner besten Münchner Rolleninterpretationen keinerlei Erwähnung in "Black Romeo" findet: sein Puck in John Neumeiers "Ein Sommernachtstraum". Hier konnte er nicht nur seine exzellente Tanztechnik zeigen, sondern auch seinen Humor ausspielen.

Die Fähigkeit zu Tragik und Witz spiegelt Lebenserfahrung wider und ist bezeichnend für einen universellen Bühnenkünstler wie Gouneo. Davon zeugt sein Tanz - und nun auch sein einnehmendes, deutlich-offenes Buch, dem zwei Jahre intensiver Interview-Gespräche mit dem Co-Autor Thilo Komma-Pöllath vorausgegangen sind.

Osiel Gouneo mit Thilo Komma-Pöllath: "Black Romeo - Mein Weg in der weißen Welt des Balletts", (C.H. Beck, 251 S., 28 Euro). Am Ende der Ballettfestwoche tanzt Osiel Gouneo an diesem Samstag, 20. April, in "La Bayadère"

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