Kritik

Das große Schweigen

Christoph Hein erzählt die Geschichte der DDR in seinem Familienroman "Das Narrenschiff" über zwei Generationen
Robert Braunmüller
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Museale Abwicklung eines Staates: Das im März 2025 eröffnete "DDR Museum Depot" in Marzahn ist eine der größten Sammlungen von Alltagsobjekten aus der DDR mit rund 360.000 Exponaten.
Museale Abwicklung eines Staates: Das im März 2025 eröffnete "DDR Museum Depot" in Marzahn ist eine der größten Sammlungen von Alltagsobjekten aus der DDR mit rund 360.000 Exponaten. © Jens Kalaene/dpa

Auf den ersten Seiten lässt die Bemerkung des Erzählers stutzen, "sämtliche Bemühungen" Moskaus seien gescheitert, den 1933 von den Nazis festgenommenen Ernst Thälmann aus dem Konzentrationslager freizubekommen. Tatsächlich hat Stalin seine Bemühungen nicht übertrieben: Der inhaftierte KPD-Chef war als Opfer taktisch wertvoller, und im Exil hätte er den Aufstieg des moskautreuen Walter Ulbricht nur gestört.

Später tischt Christoph Heins Roman "Narrenschiff" noch eine auf den ersten Blick etwas abseitige These zur heimlichen Billigung des Baus der Berliner Mauer durch John F. Kennedys Außenminister Fulbright auf. Aber da spricht erstens eine Figur und zweitens liegen offenbar seit 2013 Dokumente aus Archiven vor, die dies bestätigen.

Der 81-jährige Hein hat den nicht einfachen Versuch unternommen, auf 700 Seiten die Geschichte der DDR in Form eines Romans zu erzählen. Auf den ersten Seiten kehrt Karsten Emser, ein marxistischer Ökonom, im Gefolge der Gruppe Ulbricht auf dem russischen Exil nach Deutschland zurück.

Der Schriftsteller Christoph Hein.
Der Schriftsteller Christoph Hein. © Jens Kalaene/dpa

Er wird Mitglied des Politbüros der SED, verliert bei aller Sympathie für den real existierenden Sozialismus nie den kritischen Blick, wird aber als "Herr Professor" in seinem ökonomischen Sachverstand von Ulbricht nicht ernst genommen. Aber er ist wegen seiner Verdienste in der Exilzeit unantastbar, und mit seinem Tod im hohen Alter bricht auf den letzten Seiten auch die DDR zusammen. Leider ist Hein kein Balzac, kein Dostojevski und auch kein Thomas Mann. Die Verbindung aus politischen Debatten und persönlichen Geschichten funktioniert in seinem Roman eher schlecht. Die Figuren bleiben holzschnitthaft, der Ansatz didaktisch. Außerdem stören häufige, bisweilen wortgleiche Wiederholungen. Sie wirken, als habe der Autor schon beim Schreiben an eine Hörbuchfassung gedacht.

Die zweite zentrale Figur ist der Bergbauexperte Johannes Goretzka. Er wurde in der russischen Kriegsgefangenschaft vom kommunistischen "Nationalkomitee Freies Deutschland" vom überzeugten Nazi zum nicht minder überzeugten Stalinisten gehirngewaschen.

Museale Abwicklung eines Staates: Das im März 2025 eröffnete "DDR Museum Depot" in Marzahn ist eine der größten Sammlungen von Alltagsobjekten aus der DDR mit rund 360.000 Exponaten.
Museale Abwicklung eines Staates: Das im März 2025 eröffnete "DDR Museum Depot" in Marzahn ist eine der größten Sammlungen von Alltagsobjekten aus der DDR mit rund 360.000 Exponaten. © Jens Kalaene/dpa

Seine für die Kriegsgeneration nicht untypische Gefühlskälte und seine Verweigerung, sich seiner Vergangenheit zu stellen, wäre an sich nicht uninteressant. Aber Hein hat es nicht so mit der Psychologie. Die Krisen der Vernunftehe Goretzkas und das schlechte Verhältnis zur Stieftochter und zu seinem eigenen Sohn wird vor allem behauptet, aber nicht auserzählt.

Und ein wenig fühlt sich der Leser auch auf dem Arm genommen, wenn sich Goretzka in einem Nebensatz vom Alkoholiker in einen Antialkoholiker verwandelt, als müsste man dafür nur einen Schalter umlegen. Goretzkas Frau Yvonne steigt durch ihren ohne jede Überzeugung oder politisches Interesse motivierten Eintritt in die SED von der Bürohilfskraft erst zur Kulturhausleiterin und später zur Stellvertreterin im Referat Kinder- und Jugendfilm der Hauptverwaltung Film auf. Ähnliche Karrieren im Parteiauftrag machen auch andere Figuren durch. Hein schildert das für Leser, die die DDR nicht erlebt haben, sehr glaubhaft - einschließlich eines gefederten Absturzes, wie ihn der wenig flexible Goretzka erlebt.

Die interessanteste Figur des Romans ist der flamboyante Anglist Benaja Kuckuck. Der begeht nach dem an einer britischen Provinz-Uni überlebten Exil den Fehler, in die DDR zu gehen, wo man ihm als West-Emigranten ebenso misstraut wie im Westen als Kommunisten. Kuckuck wird - ebenfalls im Auftrag der Partei - Mitglied der Ost-Liberalen und Referatsleiter Kinder- und Jugendfilm. Davon hat er keine Ahnung, und es interessiert ihn auch nicht. Aber es erlaubt ihm, seine Homosexualität in maßvollen Grenzen auszuleben. Und am Ende stirbt er relativ drastisch an Demenz.

Die entpolitisierte Nischengesellschaft 

Hein konzentriert sich auf die frühe DDR, die er als Kind und Jugendlicher erlebt hat, deren Details er sich aber auch anlesen musste. Die Honecker-Ära wird entsprechend dem bekannten Begriff von Günter Gaus als weitgehend entpolitisierte "Nischengesellschaft" dargestellt, in der zwar hin und wieder Ausreiseanträge gestellt werden, in der die Repression aber vergleichsweise harmlos bleibt.

Hein, der ab 1979 als Dramaturg an der Berliner Volksbühne und später als freier Schriftsteller arbeitete, vermeidet es auffällig, alles mehr als nur zu streifen, was er aus der Innenschau kennt. Wolf Biermann tritt einmal ungenannt auf, aber die mit seinem Namen verbundene, kulturpolitisch zentrale Affäre spielt für die unpolitischen Kinder der Funktionäre keine Rolle. Die Theaterszene der DDR kommt nur in minimaler Dosis vor, die Sphäre der Literatur überhaupt nicht.

Dieses Schweigen wirkt umso erstaunlicher, weil sich diverse Figuren heftig darüber beklagen, dass die ältere Generation so gar nicht über das Moskauer Exil zu reden bereit ist. Hein ist als Autor da kein Stück besser: Er verarbeitet lieber Informationen über die frühere DDR aus zweiter Hand, statt aus eigenem Erleben über die späte DDR zu schreiben.

Eine unterkomplexe Figurenzeichnung 

Das Bild vom titelgebenden Narrenschiff wird sparsam durchgeführt. Der erste und einzige DDR-Präsident Wilhelm Pieck hat einen den Roman rahmenden anekdotischen Auftritt. Ulbricht bleibt eine stumme Figur. Markus Wolf, der Leiter der DDR-Auslandsspionage, spielt unter einem anderen Tiernamen eine Nebenrolle. Sonst sind - zumindest für Nichtexperten - keine realen Personen der DDR-Geschichte zu erkennen.

Wer sich für das Thema interessiert, wird die 700 Seiten trotz der unterkomplexen Figurenzeichnung durchhalten, allein um zu erfahren, wie Hein die Geschichte zu Ende bringt. Das ist dann doch solide, weil der Autor die Zipperlein und schweren Krankheiten des Alters mit mehr Mut zur Peinlichkeit angeht als die politischen Peinlichkeiten des anderen deutschen Staats unter Honecker.

"Narrenschiff" ist trotz des beträchtlichen Umfangs sicher nicht der eine zeitlang erwartete große DDR- und Wenderoman. Vielleicht muss man den auch gar nicht schreiben, vielleicht entzieht sich die geschichtliche und soziale Komplexität des 20. und 21. Jahrhunderts auch der Form der realistischen Romane des 19. Jahrhunderts.

 

Christoph Hein: "Das Narrenschiff" (Suhrkamp, 750 Seiten, 28 Euro)

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