Das Deutsche Kaiserreich: Halb autoritär, halb pluralistisch

München - Heute vor 150 Jahren wurde nach der Niederlage Frankreichs der preußische König Wilhelm I. im Spiegelsaal von Schloss Versailles zum deutschen Kaiser proklamiert.
Das Kaiserreich dauerte bis zur Revolution von 1918, und es gilt im historischen Bewusstsein als die Zeit der Schnurrbärte, Pickelhauben und des deutschen Militarismus. Die Historikerin Hedwig Richter hält das nur für die halbe Wahrheit.
AZ: Frau Richter, man hört immer wieder, dass die Kaiserproklamation nicht der eigentliche Akt der Reichsgründung war. Ist da etwas dran?
HEDWIG RICHTER: Tatsächlich begann das Deutsche Kaiserreich mit der Verfassung des Deutschen Bundes, und die trat am 1. Januar 1871 in Kraft. Wenn man sich das bewusstmacht, löst sich die Exotisierung, mit der das Kaiserreich heute belegt wird, doch etwas auf.
Trotz einer Verfassung war das Kaiserreich keine Demokratie.
Ja. Eine konstitutionelle Monarchie war damals die in Europa übliche Staatsform. Dem Parlament - dem Reichstag - war zwar eine eher kleine Rolle zugedacht, im Verfassungsalltag entwickelte es sich jedoch zum zentralen politischen Organ, auf das sich die Öffentlichkeit konzentrierte, das Gesetze erließ und das sein Budgetrecht wahrnahm.

Allerdings durften nur Männer wählen.
Stimmt. Aber das allgemeine gleiche Männerwahlrecht war ein Fortschritt gegenüber dem nach der Steuerleistung abgestuften Männerwahlrecht in Preußen. Auch hier war Deutschland typisch für die Zeit. Die Jahre um 1871 zeigen weltweit einen demokratischen Aufbruch: In Frankreich folgte auf das Zweite Kaiserreich die Dritte Republik, in den USA verbot der 15. Zusatzartikel zur Verfassung, Männern wegen ihrer Hautfarbe oder ihres früheren Status als Sklaven das Wahlrecht zu verweigern.
Hedwig Richter: "Wilhelm II. wurde vielfach zum Gespött"
Trotz der starken Stellung des Parlaments: Vor allem der dritte deutsche Kaiser, Wilhelm II., mischte sich doch stark in die Politik ein.
Das erscheint wohl vor allem deshalb so, weil uns dieses politische System fremd geworden ist. Der Kaiser war aber nie die alles beherrschende politische Kraft. Wilhelm II. etwa schwadronierte furchtbar viel - seine Gattin wünschte ihm einmal ein Schloss vor den Mund-, und er wurde vielfach zum Gespött. Obwohl er den Reichstag als "Affenhaus" bezeichnete, wuchs die Bedeutung des Parlaments immer weiter.
Wie wichtig war den Zeitgenossen der 18. Januar 1871?
Der inoffizielle Nationalfeiertag des Kaiserreichs war lange der Sedantag, der an den entscheidenden Sieg im Krieg gegen Frankreich erinnerte. Der 18. Januar 1871 war ein eher zufälliger Termin. Wilhelm I. wehrte sich lange gegen den Kaisertitel. Ich habe für ein Buch über das Kaiserreich zeitgenössische Zeitungen gelesen und festgestellt, dass über die Kaiserproklamation im Spiegelsaal von Versailles eher nebenbei berichtet wurde.
Richter: "Die Zeit des Kaiserreichs war auch die Zeit des Impressionismus"
Warum denkt man trotzdem beim Kaiserreich an die Proklamation?
Ich denke, es liegt an dem berühmten Gemälde von Anton von Werner. Es ist ein Meisterwerk der Propaganda, das wir nicht für bare Münze nehmen sollten. Dazu gehört auch die Vorstellung, dass das Kaiserreich ausschließlich eine Zeit der Pickelhauben, des Militärs und der Männer war.
Warum ist das nur die halbe Wahrheit?
Ganz klar: Das Kaiserreich war eine autoritäre Gesellschaft. Aber es gab zahlreiche andere Bewegungen wie die Sozialdemokratie, die Frauenbewegung oder auch die Entwicklungen in der Kunst. Das Kaiserreich war eine - für damalige Zeiten - plurale Gesellschaft, zu der linke Frauen, die das politische System revolutionär verändern wollten, ebenso gehörten wie liberale Frauen, die innerhalb des geltenden Rechts Veränderungen herbeiführen wollten. Selbst die Emanzipation der Homosexuellen begann bereits im Kaiserreich - wie in Sachen des Sozialstaates war Deutschland hier führend.
Stießen die Avantgarden nicht auf Widerstand?
Nicht nur. Man kann das an vielen Reformbewegungen, der Frauenbewegung, aber auch in der Kunst sehen: Die Zeit des Kaiserreichs war auch die Zeit des Impressionismus. Im Herzen des Reichs, in der Nationalgalerie auf der Berliner Museumsinsel wurde damals die größte Sammlung moderner französischer Kunst im Ausland angelegt. Es stimmt, dass Kaiser Wilhelm II. den Impressionismus nicht mochte, aber das Bürgertum hat das nicht von der Einsicht abgehalten, dass dieser Kunst die Zukunft gehörte.
Hedwig Richter: "Nation ist erst einmal ein Gleichheitsvehikel"
Profitierten von alledem auch die unteren Schichten?
Ich sehe das Kaiserreich als große Zeit der gesellschaftlichen Inklusion. Die Arbeiterbewegung wird stärker, die unteren Schichten gewinnen an Bedeutung, immer mehr Menschen dürfen wählen. Diese große Inklusion bringt aber eine starke Exklusion mit sich: Rassismus und Nationalismus verbinden sehr stark nach innen. Nation ist erst einmal ein Gleichheitsvehikel, das Preußen und Bayern oder Arbeiter und Fabrikanten zusammenbringt. Zugleich grenzt man sich nach außen ab. Das erklärt, dass in dieser Zeit, in der international die Gesellschaft egalitärer wird, zugleich ausschließende Effekte wirksam werden.
Etwa durch den grassierenden Antisemitismus.
Genau. Und es wäre übrigens eine Verharmlosung des Antisemitismus und des Rassismus, wenn man sie lediglich als ein deutsches Phänomen betrachten würde. Das war um 1900 viel schlimmer: eine länderübergreifende Mentalität. Das zeigt sich auch im Rassismus der damals international beliebten Völkerschauen, wo sich die Leute Menschen aus afrikanischen Ländern im Zoo vorführen ließen, um sich umso stärker als Angehörige des "zivilisierteren" Teils der Menschheit fühlen zu können.
Wie steht es mit dem Militarismus?
Das Militär spielte im Kaiserreich eine zentrale Rolle. Aber auch das war ein internationales Phänomen. Den Kult um die Flotte etwa schauten sich Deutschen von den Briten ab, mitsamt dem Matrosenanzug für Knaben. Kein Historiker bestreitet heute die katastrophale Rolle des Militärs vor und während des Ersten Weltkriegs und darüber hinaus, in der Weimarer Republik, im Versuch, sich die Hände in Unschuld zu waschen.
Im vergangenen Jahr erschien Hedwig Richters Buch "Demokratie. Eine deutsche Affäre" (C. H. Beck, 400 Seiten, 24.95 Euro)