"Bye Bye Lolita": Selbstermächtigung einer Romanfigur

Das war überfällig! Vor annähernd 70 Jahren, 1955, erschien Vladimir Nabokovs Roman "Lolita", in dem der Schriftsteller auf über 700 Seiten seinen Ich-Erzähler Humbert Humbert poetisch von seiner Liebe zur 12-jährigen Dolores Haze erzählen lässt, die er Lolita nennt.
Wer den Roman liest, den schaudert es ob der verklärten Sicht des Erzählers auf das, was er da treibt und das nicht weniger ist als die Entführung eines Kindes zum alleinigen Zwecke, sie komplett zur eigenen sexuellen Verfügung zu haben. Das Mädchen wird uminterpretiert zur "Nymphette", zum männerverführenden Vamp. Und dieses Bild hat sich in den Köpfen festgesetzt auch all derer, die den Roman nie gelesen haben. "Lolita", das ist die sexy Kindfrau, gefeiert in Filmen und Songs, ein Element der Popkultur.
Die Schauspielerin Lea Ruckpaul, Ensemblemitglied am Residenztheater, hat diesen faulen Mythos nun gehörig entzaubert: Ihr Debütroman "Bye Bye Lolita" erzählt die Geschichte neu. Aus Sicht der inzwischen erwachsenen Dolores Haze. Und plötzlich ist da wenig blumig, wenig leicht. Wo all die Verklärung wegfällt, bleibt die Geschichte eines andauernden Missbrauchs, ungezählter Vergewaltigungen und eines Mädchens, das ihrem Vergewaltiger nach dem Tod der Mutter hilflos ausgeliefert ist. Ruckpaul übersetzt Nabokovs Poesie in bittere Realität.
Lolita will sich den Mann vom Leib schreiben
Über 20 Jahre hat Dolores ihren Peiniger nicht mehr gesehen, abschütteln kann sie ihn dennoch nicht: "Andere Menschen haben eine chronische Krankheit, mit der sie sich ein Leben lang abmühen, ich habe Humbert Humbert." Diese Ich-Erzählerin schreibt im Geiste des Exorzismus, will sich diesen Mann vom Leib schreiben, seiner Wahrheit die ihre entgegensetzen, sich aus der "Bumsphantasie" der anderen befreien. Dieses Buch ist eines über den Blick von außen, der uns alle prägt und dem wir nur schwer entkommen können. Humbert Humbert hat Dolores seine Sicht aufgezwungen, bis sie selbst nicht mehr sicher war, ob sie das alles nicht doch in Gang gesetzt hat. Und alle Welt fand es einfacher, in ihr die Verführerin zu sehen als in ihm den Vergewaltiger. Ist doch die bessere Geschichte, die erträglichere.

In Ruckpauls Version der Geschichte hat die Angst der Dolores ebenso Platz wie ihre Schmerzen, die körperlichen und die seelischen. Diese Verbindung hat nichts Schönes, nichts Romantisches, dafür viel Brutales. Nicht nur einmal versucht sie zu fliehen, aber: "Niemand hielt für möglich, was er tat. Niemand rettete mich." Eindrücklich schildert die Erzählerin, wie er sie verstrickt in ein Netz aus Abhängigkeit und Bedürftigkeit, in dem ihre größte Angst am Ende die ist, der Täter würde sie verlassen. Weil dann wäre das Mädchen, dessen Eltern tot sind, ganz alleine.
"Bye Bye Lolita" ist ein Ende der Ausreden
Ruckpaul erzählt vom Vergessen, Verdrängen und Erinnern, vom Wunsch, die eigene Geschichte neu zu schreiben, ohne ihn. Hier hat all das Platz, was Nabokov geflissentlich auslässt. Dieses Buch ist nicht nur eines über die Selbstermächtigung einer Romanfigur. Es ist eines darüber, wie es Opfern von sexuellem Missbrauch ergeht, wie die Gesellschaft auf sie blickt und welche Folgen das hat. "Lolita" mag ein Roman aus einem vergangenen Jahrhundert sein. Das Thema aber ist leider längst nicht erledigt: ",Lolita', das sind viele, wir sind es und wir werden es auch in Zukunft sein, wenn wir so weitermachen wie bisher." Wenn wir wegsehen, um unser Leben ungestört weiterleben zu können.
"Bye Bye Lolita" ist ein Ende der Ausreden, ein Hinsehen und Zurechtrücken. Ausgeliefert ist Mann nicht seinen Trieben. Ausgeliefert ist ein Mädchen, auf dem ein "ausgewachsener Männerkörper" liegt. Ausgeliefert ist eine Überlebende ihrer Vergangenheit. "Ich will einmal eine einzige Nacht lang und den Tag darauf die sein, die ich hätte werden können, wenn es Humbert Humbert in meinem Leben nicht gegeben hätte", schreibt die Ich-Erzählerin einmal. Das wird nicht möglich sein. Das Geschehene lässt sich nicht aus der eigenen Biografie löschen. Eines aber immerhin erkämpft sich diese Figur, die Lea Ruckpaul geschaffen hat: die Hoheit über ihre eigene Geschichte.
Lea Ruckpaul: "Bye Bye Lolita" (Voland & Quist, 312 Seiten, 24 Euro). Am Freitag, 8.11. 2024, liest Lea Ruckpaul um 20 Uhr im Residenztheater aus ihrem Roman