Interview

Buch zur Frühromantik: Als die Geisteswelt auf Jena schaute

In ihrem neuen Buch "Fabelhafte Rebellen" blickt Andrea Wulf auf die deutschen Frühromantiker.
von  Volker Isfort
Blick auf das heutige Jena. Um 1800 hatte die Universitätsstadt rund 4500 Einwohner, wovon 900 Studenten waren.
Blick auf das heutige Jena. Um 1800 hatte die Universitätsstadt rund 4500 Einwohner, wovon 900 Studenten waren. © picture alliance/dpa

Ihre Biografie über Alexander von Humboldt war mit einer Auflage von über einer Million Exemplare ein internationaler Bestseller. Nun blickt Andrea Wulf in ihrem Buch "Fabelhafte Rebellen" auf die ungemein produktive Zusammenarbeit der deutschen Frühromantiker, die Jena Ende des 18. Jahrhunderts zum europäischen Zentrum der Philosophie, Literatur und Geisteswissenschaft machten.

Zeitgleich verweilten hier Schiller, Goethe, die Brüder Humboldt, Schelling, Novalis, Hegel, Fichte, Friedrich Schlegel, August Wilhelm Schlegel nebst Gattin Caroline, die im Zentrum dieses intellektuell schillernden Gruppenporträts steht.

AZ: Frau Wulf, wie sind Sie auf das Thema der Jenaer Gruppe gestoßen?
ANDREA WULF: Meine Humboldt-Recherche hat mich damals nach Jena geführt für das Kapitel über Goethe und Humboldt. Und da habe ich überall die Gedenktafeln an den Häusern gesehen: ein Who is Who der deutschen Dichter und Denker. Damals war mir Caroline Schlegel noch gar kein Begriff, weil sie in ihrer literarischen Rolle quasi aus der Geschichte rausgeschrieben wurde. Dabei hat sie beispielsweise gleichberechtigt mit ihrem Mann die Shakespeare-Übersetzungen gemacht, aber nur sein Name blieb bestehen.

Eine Frau im Zentrum von Dichtern und Denkern

Was haben Sie denn in den Briefen gefunden, um Ihre Rolle neu einzuordnen?
Erst durch die Recherche - und ich habe wirklich Tausende Briefe gelesen - habe ich gemerkt, wie sehr sie im Zentrum des Jenaer Kreises stand, nicht nur als Muse, sondern als intellektueller Mittelpunkt. In einem Brief beschwert sich etwa Friedrich Schlegel, dass Caroline immer seine Texte für die Kulturzeitschrift "Athenaeum" kürze, sie hat also dort als Redakteurin fungiert. In einem Brief an Goethe schreibt August Wilhelm Schlegel, dass "sein" Essay "Die Gemälde" hauptsächlich von seiner Frau geschrieben sei. Ich bin auf viele solcher Beispiele gestoßen.

"Jede Figur wäre eine eigene Biografie wert"

Sie wäre auch eine eigene Biografie wert gewesen.
Jede dieser Figuren ist interessant genug für eine eigene Biografie, aber viel ungewöhnlicher war diese Zusammenarbeit des Kreises, also zu beschreiben, wie sie sich gegenseitig befruchtet haben. Denn sie sind von Fichtes Ich-Philosophie beeinflusst, die von allen auch so praktiziert wird, dass das Leben die Theaterbühne dafür wird. Es geht in dem Buch nicht um verstaubte Ideen, die nichts mehr mit unserem Leben zu tun haben. Es geht auch um den Spagat aus Selbstbewusstsein, Egoismus und freiem Willen. Das ist heute noch die gleiche Gratwanderung für uns.

Die 1972 in Indien geborene Autorin studierte Kulturgeschichte in Lüneburg und London und debütierte 2005 mit einem Buch über die Geschichte der Gärtnerei.
Die 1972 in Indien geborene Autorin studierte Kulturgeschichte in Lüneburg und London und debütierte 2005 mit einem Buch über die Geschichte der Gärtnerei. © privat/Verlag

Nicht nur Wissenschaft, sondern Fantasie und Gefühle

Humboldt schreibt nach seiner fünfjährigen Reise durch Südamerika, Goethe habe ihm neue Organe gegeben, um die Welt zu sehen. Was meint er damit?
Humboldt kommt als ganz typischer Wissenschaftler der Aufklärung in Jena an. Er glaubt an Rationalität, Beobachtung, kontrollierte Experimente. Alles, was irrational ist, nicht messbar, oder emotional hat in den Methoden seiner Wissenschaftsdisziplin nichts zu suchen. Erst durch seine Zeit in Jena ändert sich Humboldt. Er schleppt dann zwar 42 Messinstrumente durch Südamerika, ist aber gleichzeitig jemand, der sagt: Es interessiert mich nicht nur das Empirische, sondern wir können die Natur nur verstehen, wenn wir auch unsere Vorstellungskraft, unsere Fantasie und unsere Gefühle benutzen. Das ist zum Beispiel für die heutigen Klimadebatten auch ganz wichtig.

Chilliger Goethe und spießiger Schiller

In Ihrem Buch wirkt Schiller weitaus spießiger und Goethe viel cooler als man sie in Erinnerung hatte.
Zuvor fand ich immer den revolutionären Schiller besser als den angeblich so steifen Geheimrat Goethe. Wenn man aber die Briefe liest, dann merkt man, dass es ein wenig anders war. Aber man muss auch bedenken, dass Schiller - im Gegensatz zu Goethe - permanent auf seine ökonomische Situation achten musste. Er war immer angespannt.

Was mich bei Goethe so überrascht hat, war seine Menschlichkeit als Vater, das Spielerische und auch, wie er diesen Haufen rebellischer Charaktere irgendwie zusammenhält und es schafft - ohne sich für eine Seite zu entscheiden - im Mittelpunkt zu bleiben, selbst als Teile der Gruppe sich zerstreiten. Goethe war schon viel älter als die anderen, aber er ist mit einer unglaublichen Offenheit auf neue Ideen zugegangen.

Jena als philosophischer Mittelpunkt Europas

Wie konnte ausgerechnet Jena so ein Magnet werden?
Berlin hatte noch gar keine Universität, in England gab es nur Oxford und Cambridge und die waren sehr christlich und theologisch ausgerichtet. Da wurde keine moderne Philosophie unterrichtet. Es gab eine Zeit, als Dichter und Denker Deutsch lernen mussten, um die unglaublichen Sachen, die aus Jena kamen, zu verstehen. Der große britische Romantiker Samuel Taylor Coleridge und die amerikanischen Transzendentalisten Ralph Waldo Emerson, Walt Whitman, Henry David Thoreau oder auch Edgar Allen Poe waren stark von Jena beeinflusst.

Coleridge ist nach Deutschland gekommen, um die Sprache zu lernen, er hat seitenweise Schellings Arbeiten übersetzt und als eigene Ideen ausgegeben. Die Einheit von Geist und Natur wurde ein zentraler Gedanke für die englischen Romantiker. August Wilhelm Schlegels Vorlesungen über Shakespeare haben Shakespeare in England wieder auf die Spielpläne gebracht: Der galt dort seit Anfang des 18. Jahrhunderts eher als vulgär. Für den Jenaer Kreis aber war Shakespeare der Inbegriff des romantischen Dichters.

Englisch oder Deutsch?

Sie haben den ganzen Tag die Briefe auf Deutsch gelesen und dann auf Englisch das Buch geschrieben. Warum?
Ich wohne seit 30 Jahren in England, ich habe dort meine literarische Stimme gefunden. Ich hätte das Buch gar nicht mehr auf Deutsch verfassen können.

Lesen sich manche deutsche Denker auf Englisch verständlicher?
Bei Hegel und bei Kant ist das auf jeden Fall so, weil im Englischen die Sätze kürzer sind und das Verb nicht so weit hinten steht. Andererseits gibt es für ein Wort wie Erkenntnis keinen adäquaten englischen Begriff. Es wird mit Knowledge übersetzt, aber das Wort bildet den Prozess, Wissen zu erlangen, nicht ab. Deutsch ist für Philosophie einfach präziser.

Geschichte ist ein Narrativ

Hatten Sie schon in der Schulzeit ein Faible für das 18. Jahrhundert?
Nein, ich fand Deutsch und Geschichte eher langweilig. Meine Begeisterung für das 18. Jahrhundert begann erst beim Studium in London. Ich hatte tolle Professoren! Wir sind mit Straßenkarten aus dem 18. Jahrhundert durch London gelaufen und haben versucht, die Stadt zu sehen und zu fühlen wie sie damals war. In der angelsächsischen Welt wird Geschichte narrativer vermittelt als in Deutschland. Erst in London bin ich auf Sachbücher gestoßen, die auf einem akademischen Level recherchiert waren, aber geschrieben wie ein Roman. Das war ein Augenöffner für mich. Ich habe gewusst: So will ich auch schreiben.

Spiegel-Bestseller!

Sie sind mit Ihrem Buch nun seit fünf Wochen auf der "Spiegel"-Bestsellerliste, es gibt also doch noch ein Bildungsbürgertum.
Mein Humboldt hielt sich Monate auf der Bestsellerliste zwischen Ratgebern und Promibüchern. Ich habe damals E-Mails von anderen Verlegern bekommen, die mir geschrieben haben, dass ihnen mein Erfolg wieder Hoffnung gebe. Und ganz ehrlich ist dieser Jenaer Kreis mit seinen exzentrischen Personen und dem teils wilden Liebesleben ja auch ein bisschen wie eine Soap-Opera.

Eine "Lindenstraße" für Intellektuelle?
Warum nicht? Ich bin jedenfalls im Gespräch mit Menschen aus dem Filmbusiness.

Wechseln Sie für das nächste Buchprojekt die Epoche?
Das 18. Jahrhundert ist schon die Zeit, die mich am meisten interessiert. Die Wurzeln für unser heutiges Dasein liegen dort. Bei Humboldt bin ich mit den Nachwirkungen bis ins 19. Jahrhundert gekommen und dann auf Manuskripte gestoßen, die mit der Schreibmaschine geschrieben wurden. Da dachte ich o.k., das reicht jetzt. Ich bleibe im Zeitalter der Handschriften.


Andrea Wulf: "Fabelhafte Rebellen" (C. Bertelsmann, 526 Seiten, 30 Euro).

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