Biografie von Pulp-Frontmann: Jarvis Cockers Dinge des Lebens

Der Frontmann von Pulp sortiert in "Good Pop, Bad Pop" originell seine Biografie.
Nicola Bardola |
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Der Musiker Jarvis Cocker hat seine Siebensachen geordnet und darüber ein Buch geschrieben.
picture alliance/dpa/Rough Trade/Beggars Group/Indigo Der Musiker Jarvis Cocker hat seine Siebensachen geordnet und darüber ein Buch geschrieben.

In welchem Verhältnis stehen Gegenstände, die wir gerne zeigen (prominent im Wohnzimmer präsentieren) zu anderen Gegenständen, die wir in alten Schachteln verwahren (im Dachboden deponieren oder gar verbergen)? Kostbarkeiten und Wunschbilder hier – Nippes und Traumata dort?

Der 59-jährige Brite Jarvis Cocker (Frontmann von Pulp mit eigener Solokarriere) hat sich wie kaum ein anderer dieser Frage gestellt. In seinem allerersten Buch "Good Pop, Bad Pop. Die Dinge meines Lebens" lässt er die herzeigbaren Exponate seiner Wohnungen außen vor und holt stattdessen die teils vergessenen, teils verdrängten Objekte aus einem Lagerraum im obersten Stockwerk seines viktorianischen Wohnhauses in London hervor.

 Jarvis Cocker: Jeder Gegenstand erzählt eine Geschichte

Im Verlauf von über zwanzig Jahren, in denen Jarvis Cocker hauptsächlich in Paris wohnte und sich in Songtexten, aber nie in Prosa ausdrückte, rührte er diese nur durch eine Klappe zugängliche "Müllhalde" (maximale Deckenhöhe ein Meter) nicht an. Doch dann zwangen ihn die Umstände dazu und Cocker nahm sich vor, jedes Stück gründlich zu untersuchen, Erinnerungsarbeit zu leisten stets von der Frage begleitet: Kann das weg oder behalte ich es? Das einfallsreich gelayoutete Buch legt Zeugnis einer Selbstausgrabung ab. Cocker ordnet sein Riesendurcheinander, den "vielen Mist" und macht ein großes Rock-Biopic daraus, denn jeder Gegenstand erzählt eine Geschichte seines Lebens.

Kaugummis, Aufnäher, Kragenstützen, Sex-Heftchen, Halfpenny-Manschettenknöpfe, Hemden, Krawatten, eine Art Schlüsselanhänger mit der Aufschrift "Love me, I'm nice and easy" (kann weg), ein Weltempfänger, der Gipsabdruck seiner Zähne, Brillen, ein Seifenrest, Bleistifte, Broschen, Comics, Zeitschriften, Musikinstrumente, ein Kassettenrekorder mit integriertem Drum-Computer, ein Radio in Schildkrötenform (die Augen leuchten rot und blinken im Takt), ein tragbarer Fernseher (JVC 3020), eine Damenhandtasche ("The Thatcher Bag") mit Bastelbögen und ein Kaugummiautomat mit Tattoo-Büchlein als Finale (bleibt). Dazwischen viele Kassetten, Schallplatten, Bücher, Fotos (u.a. Cocker mit Leonard Cohen, der ihm die Pop-Magie erklärt), Puppengesichter für Plüschspielzeugbastler, Plastiktüten, Konzert- und Werbeplakate, Eintrittskarten, Zeitungsartikel und immer wieder (Secondhand) Klamotten, kurz: der Pulp-Look.

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Cocker wusste schon früh, was er wollte

Eine der erstaunlichsten Erkenntnisse dieses Sammelsuriums: Wie früh und zielstrebig Cocker schon wusste, was er wollte, nämlich Erfolg als Bandleader einer Gruppe namens Pulp, als sie nur in seiner Fantasie existierte. "Ich erwarb den Auswurf der Gesellschaft & ‚nutzte ihn um'. Ich lernte etwas über die Welt, indem ich mir anschaute, was sie wegwarf. Was sie für ‚wertlos' hielt. Das war der wahre Anfang der Pulp-Ästhetik. Den Abfall durchkämmen, um eine Alternative zum offiziellen Narrativ zu finden."

Mit Dingen aus zweiter Hand "eine brandneue Geschichte erzählen", nimmt Cocker sich vor und realisiert es mit diesem Buch, für das er 100.000 Pfund Vorschuss erhielt. Cockers Methode ist ebenso einfach wie überzeugend: Immer wieder stellt er sich und den Lesern die Frage: Warum habe ich das damals aufgehoben? Soll ich das weiterhin aufbewahren? Ist es nun Zeit loszulassen?

"Good Pop, Bad Pop": Smarte Form von Musiker-Autobiografie

Cocker gelingt eine smarte Form von Musiker-Autobiografie, in der Exkurse über Popsongs großen Raum einnehmen. Sei es Cockers musikalische Sozialisation durch Laurie Andersons "O Superman" (Platz 2 der britischen Charts), sei es Cockers im Teenageralter konzipierte Unterwanderung des Schallplattenmarktes, indem er geschickt seine Punk-Ideale mit seinen Pop-Ambitionen vereint.

Raffiniert ordnet Cocker die Fundstücke (nicht streng) chronologisch, um damit seine Entwicklung als Künstler in Text und Bild auszubreiten. Mit vielen Sachbeschreibungen und den damit verbundenen Memoiren (inklusive Schnappschüsse aus dem Urlaub) katapultiert sich Cocker im Verlauf dieser Aufräumarbeiten in seine Kindheit und Jugend. Cockers Fans finden im Buch auch viele Abbildungen der kritisch betrachteten Objekte.

Die mentale und reale Selektion der Erinnerungsstücke lässt die Karriere des Pop Rockers als Provokateur und Revoluzzer besser verstehen, von der Entwicklung der "Pulp-Garderobe" bis hin zu seinem Song "Running The World", der heute als Hymne der Umweltschutzbewegung Extinction Rebellion gilt. "Die Vorstellung, dass eine Kultur durch ihre Wegwerfartikel mehr über sich aussagt als durch ihre vermeintlich verehrten Kunstwerke, faszinierte mich. Fasziniert mich immer noch", erklärt Jarvis Cocker, der mit Pulp 2023 wieder auf Tour gehen wird.


Jarvis Cocker: "Good Pop, Bad Pop - Die Dinge meines Lebens" (Kiepenheuer & Witsch, 400 Seiten, 28 Euro)

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