Interview

Betroffene über Alltagsrassismus in Deutschland: "Viele kleine, tägliche Nadelstiche"

Von Papis Loveday bis Mola Adebisi: In einem neuen Buch erzählen 45 Betroffene aus Deutschland, wie sehr Rassismus schmerzt.
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Aus 45 Beiträgen haben sie ein Buch zu Rassismus gestaltet (erhältlich ab 4. Februar): Martina Rink und Simon Usifo.
Aus 45 Beiträgen haben sie ein Buch zu Rassismus gestaltet (erhältlich ab 4. Februar): Martina Rink und Simon Usifo. © Foto: Sammy Hart

Wenn man immer wieder darauf gestoßen wird, dass man angeblich nicht dazu gehört, anders aussieht, weniger wert sei - dann tut das weh. Das reicht von der ständigen Frage, wo man wirklich herkomme, bis zur Drohung in der Schule, abgeschoben zu werden.

Alltagsrassismus schmerzt, Alltagsrassismus verwundet.

Ein kluger Beitrag dazu ist nun auf rund 230 Seiten erschienen: "People of Deutschland". 45 Menschen erheben in dem Buch ihre Stimme. Darunter sind bekannte Namen wie Mola Adebisi, Joy Denalane, Papis Loveday aus München (war gerade im Dschungelcamp) oder Hans Sarpei. Aber auch Künstler, Autoren und mehr schreiben sich in ihrem Beitrag Ballast und Plädoyers gegen Rassismus von der Seele. Herausgegeben haben das Buch Simon Usifo und Martina Rink.

Martina Rink, Simon Usifo: People of Deutschland. 45 Menschen, 45 Geschichten. Über Rassismus im Alltag und wie wir unser Land verändern wollen; Eden Books, 24,95 Euro
Martina Rink, Simon Usifo: People of Deutschland. 45 Menschen, 45 Geschichten. Über Rassismus im Alltag und wie wir unser Land verändern wollen; Eden Books, 24,95 Euro © Eden Books

AZ: Herr Usifo, wie verbreitet ist Rassismus in Deutschland aus Ihrer Sicht?
Simon Usifo: Verbreiteter, als sich die Mehrheitsgesellschaft das vorstellen oder nachempfinden kann. Es ist wichtig, die verschiedenen Formen von Rassismus zu unterscheiden.

Das wären?
Usifo:
Als Erstes ist Deutschland Teil einer Welt, in der Rassismus nicht nur sehr verbreitet, sondern einfach systemimmanent ist. Hier geht es um strukturellen Rassismus. Kolonialismus und Sklaverei haben über einen sehr langen Zeitraum in unserer Geschichte dazu beigetragen, dass bestimmte ethnische Gruppen weltweit wirtschaftlich, politisch und sozial benachteiligt wurden. Diese Benachteiligungen haben sich im Laufe der Zeit verfestigt und haben weltweit eine Auswirkung auf die gesellschaftliche Stellung und Akzeptanz von Schwarzen oder People of Color. Dementsprechend ist alles in unserem Alltag von diesem Ungleichgewicht beeinflusst, auch wenn wir es nicht immer so wahrnehmen. Hinzu kommt, dass Deutschland zusätzlich in der jüngeren Geschichte auch durch Nationalsozialismus geprägt wurde.

Welche Formen gibt es noch?
Usifo: Als Zweites halten wir es für wichtig, dass man kein Rassist im ideologischen Sinne sein muss, um sich rassistisch zu verhalten. Im Grunde passiert das rassistische Verhalten ständig und zum Teil auch oft ohne böse Intention. Einfach aufgrund der Tatsache, wie wir sozialisiert wurden. Unbewusste Vorbehalte spielen im Alltag eine sehr große Rolle und selbst wir als PoC können uns davon nicht freisprechen. Das Entscheidende ist, dass man sich dessen bewusst wird, sein eigenes Verhalten reflektiert und an seinen Reflexen arbeitet, so wie man einen Muskel trainiert: mit Ausdauer und ständiger Wiederholung.

Rassismus ist nach wie vor auch in Deutschland sehr präsent 

Und des Weiteren?
Usifo:
Als Letztes sehen wir natürlich neben diesen eher latenten und subtilen Formen von Rassismus auch einfach den blanken Hass und die Abneigung, die sich in Xenophobie begründet, weil Menschen sich häufig vor dem Unbekannten fürchten und sich dann schnell in sehr simplistische Antworten und Lösungsansätze flüchten. Es scheint allerdings so zu sein, dass diese Form von Rassismus, die auch am Ende in physische Gewalt umschwenken kann, immer vor allem dort verbreitet ist, wo die Menschen relativ gesehen weniger mit nicht-weißen Menschen konfrontiert werden. Nimmt man diese Bandbreite an unterschiedlichen Schattierungen und Facetten von Rassismus als Maß, stellt man fest, dass Rassismus tatsächlich auch in Deutschland nach wie vor sehr präsent ist.

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Frau Rink, warum ist es wichtig, Betroffene zu Wort kommen zu lassen?
Martina Rink: Für Menschen, die Teil der Mehrheitsgesellschaft sind, ist es im Alltag nahezu unmöglich, authentisch zu simulieren, wie es ist, nicht zur Dominanzgesellschaft zu gehören. Persönliche Geschichten sind in diesem Zusammenhang eine wunderbare Form der Kommunikation, die bei Nicht-Betroffenen eine neue Perspektive zum Leben erwecken kann und jenseits der rationalen Ebene illustriert, was auf der menschlichen Ebene passiert.

Warum wird Alltagsrassismus oft kleingeredet, etwa "Ist doch nicht so gemeint" oder "Sei nicht so empfindlich".
Rink:
Oftmals dominiert der Trugschluss, dass, wenn ich selbst etwas nicht nachvollziehen kann, es auch so nicht existiert. Zudem hilft das Beschwichtigen auch, die eigenen potenziellen Schuldgefühle zu verdrängen und das Thema unter den Tisch zu kehren.

Wie kann man Rassismus bekämpfen?

Wie kann man Rassismus - vom individuellen bis hin zum systematischen - bekämpfen?
Usifo: Es sind sicher viele Dinge gleichzeitig notwendig. Aufgrund der extrem starken und historischen Verankerung gewisser Denkmuster in unserer Gesellschaft und kollektiven Wahrnehmung ist es sinnvoll, sich darauf zu fokussieren, dass die jungen Menschen und Generationen, die diese Welt in Zukunft noch prägen werden, ein neues Bewusstsein dafür entwickeln, wie privilegiert sie sind und welche Schwierigkeiten, aber auch Verpflichtungen daraus resultieren. Bildung und Aufklärung, darüber, wie unsere Solidargemeinschaft, aber auch, wie die Grundwerte einer freiheitlich-demokratischen Grundordnung funktionieren, sind eine gute Basis, um dem Rassismus von morgen den Nährboden zu entziehen. Sie kommt nämlich nicht nur mit Rechten, sondern auch mit der Pflicht, im Sinne des Gemeinwohls zu agieren.

Was war Ihr eigenes prägendstes Erlebnis mit Rassismus?
Rink:
Die Marginalisierung im sehr jungen Kindesalter durch Klassenkameraden, die nicht mit einem spielen wollten, habe ich als eines der verletzenden Erlebnisse in Erinnerung.
Usifo: Es ist schwer, ein prägendes Erlebnis herauszuarbeiten. Sie sind zu zahlreich. In der Schule, beim Reisen, im Beruf, auf dem Amt, im Restaurant, bei der Wohnungssuche oder bei einer Fahrscheinkontrolle. Deswegen heißt es ja Alltagsrassismus. Physische Gewalt habe ich persönlich zum Glück im Kontext von Rassismus bisher noch nie erlebt. Die Frage, die ich mir allerdings stelle, ist: Welcher Schmerz ist größer? Der Physische in einer Grenzsituation. Oder die vielen kleinen täglichen Nadelstiche einer Gesellschaft. Vorbehalte, Stereotype, Mikro-Aggressionen, Pauschalisierungen und das permanente Unterschätzen. All das, was einen immer wieder daran erinnert, dass man nie 100 Prozent dazugehört und zum anderen, dass das, was gewisse Menschen an einem stört, nicht von mir zu beeinflussen ist.


Martina Rink, Simon Usifo: People of Deutschland. 45 Menschen, 45 Geschichten. Über Rassismus im Alltag und wie wir unser Land verändern wollen; Eden Books, 24,95 Euro

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2 Kommentare
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  • Ali Kante am 15.02.2023 11:02 Uhr / Bewertung:

    Was glaubt man eigentlich wie viele "Nadelstiche" deutsche Kartoffelschüler in deutschen Schulen von Nicht-Kartoffeln ertragen müssen? Interessiert aber niemanden...

  • Ironü am 15.02.2023 10:33 Uhr / Bewertung:

    Bei Papis Loveday aus München muss man schon hinzufügen, dass er gerade im Dschungelcamp war. Sonst würde ihn niemand kennen. Hat nichts mit Rassismus zu tun, sondern mit Wichtigtuerei und Instakram.

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