2.000 Jahre Küchenwahnsinn: Exzentrik nach Rezept

Ob Huhn in der Flasche, Flamingohirne oder Gockelbier – die Romanisten Tobias Roth und Moritz Rauchhaus haben eine irre Auswahl aus 2.000 Jahren Küchenwahnsinn zusammengestellt.
von  Christa Sigg
Adriaen van Utrechts Spezialität waren große Küchenstücke mit Hummern, Pasteten, Früchten, Schinken und unfassbar prächtigem Geschirr. Dieses hier entstand 1644.
Adriaen van Utrechts Spezialität waren große Küchenstücke mit Hummern, Pasteten, Früchten, Schinken und unfassbar prächtigem Geschirr. Dieses hier entstand 1644. © imago/Artokoloro

Schade, den bundesweiten Tag der Dominosteine am 3. Dezember haben wir glatt verpasst. Aber auf den Toast-Hawaii-Tag am 20. Februar könnte man sich noch in aller Ruhe vorbereiten und Erythrosin-gefärbte Kirschen aus den vielen Silvestercocktails sammeln. Oder Scheibletten beim Dallmayr vorbestellen.

Am 1. April – kein Scherz – wartet dann der internationale Tag der essbaren Bücher. Doch was macht man da eigentlich? 24 Stunden lang essbare Bücher essen? Toast Hawaii schon zum Frühstück?

Exzentrische Küche aus 2.000 Jahren in einem Buch

Tobias Roth und Moritz Rauchhaus lassen diesen bizarren Kalender unkommentiert, aber die Bandbreite zwischen Nutella, Gurke (die Briten!), Fischbrötchen und Tofu erzählt natürlich etwas über die Gepflogenheiten heutiger "Ernährung".

Selbst die Spleens sind bestenfalls Peanuts gegen die historischen Ausschweifungen, die die Autoren in ihrer "Speise- und Wunderkammer der exzentrischen Küche" zusammengetragen haben.

Transport macht alles möglich

In Zeiten des Verzichts kann man über diese Auswahl nur staunen. Das reicht vom süßen Fuchslungenmus über Gockelbier bis zum Huhn in der Flasche, für das es einen Diamantschneider braucht, um sich den Braten samt seiner Füllung aus Trüffeln, Kalbsbries, Spargel, Trauben und Eigelb einverleiben zu können.

Wobei wir meistens gar nicht wissen (wollen), welcher Aberwitz sich hinter unseren Lebensmitteln oft verbirgt. Von den Reifungskatalysatoren über die Fleischaromen veganer Ersatzwaren bis zu den Schweinekeulen, die als Parmaschinken quer durch Europa gondeln. Dabei haben Transporte immer schon für den gewissen Kick gesorgt.

Pfauenzungen gegen die Pest

Fisch zum Beispiel schmeckt geübten Prassern da am besten, wo es ihn nicht gibt. Deshalb aß Elagabal, der vielleicht durchgeknallteste unter den römischen Kaisern – und die Konkurrenz ist beträchtlich – Meeresgetier nie in Küstennähe, sondern grundsätzlich im Landesinneren.

Bis der politisch eher ungeschickte Herrscher im März 222 ermordet im Tiber versenkt wurde, konnte er allerdings vier Jahren lang kulinarisch wüten. Dann speiste er Kämme von lebenden Hähnen und Zungen von Pfauen und Nachtigallen, um gegen die Pest gewappnet zu sein. Dafür durfte sich die Palastwache an den Eingeweiden von Meeräschen, an Flamingohirnen oder Papageienköpfen laben.

Die Hunde wiederum bekamen Gänseleber und die Pferde Trauben aus dem syrischen Apamea. In seinen Gourmetrunden genoss Elagabal außerdem Euter von Wildsäuen, Linsen mit Onyx oder Reis mit Perlen.

"Früher war mehr Lametta"

Früher war eben mehr Lametta, wie es im Buch so schön heißt. Vor allem die Potentaten, Kirchen- und Geschäftsleute der Renaissance ließen es so sehr krachen, dass selbst ihre barocken Nachfolger das Nachsehen hatten.

So lässt der Bankier Agostino Chigi 1518 nach einem Riesengelage sämtliches Tafelsilber kurzerhand in den nächstgelegenen Fluss werfen, und beim Venezianer Antonio Labia war es dann sogar goldenes Geschirr, das im Canal Grande entsorgt wurde. Die beiden Philanthropen wollten sicher nur das Küchenpersonal schonen.

Tempel aus Gebäck, mit Boden aus Gelatine

Etwas feinsinniger waren da die Künstler. In der Florentiner "Compagnia del Paiuolo" mussten alle Mitglieder reihum Gastmähler ausrichten und jedes Mal ein neues Gericht erfinden. Andernfalls droht eine Geldstrafe.

Und das trieb die Fantasie immerhin so sehr an, dass der Bildhauer Giovan Francesco Rustici Szenen der Odyssee aus Kapaunenfleisch präsentierte und Andrea del Sarto sich einen Tempel aus Gebäck mit einem Fußboden aus vielfarbiger Gelatine einfallen ließ. Die Chorsänger bestanden aus gekochten Wachteln – mit offenen Schnäbeln und so fort.

Die 25 Herkulesstatuen aus Zucker des Ercole d’Este sind dagegen fast fad. Gleichwohl wurden im Januar 1529 über 100 internationale Gäste mit endlosen Speisenfolgen vom Rotkehlchen bis zum Spanferkel sowie Tausenden Austern bewirtet.

Schlemmen auf bayerisch: Christus am Ölberg aus Zucker

Verschwenderisch ging es freilich nicht nur im Süden zu. Als Renata von Lothringen und der Bayernherzog Wilhelm V. 1568 in München geheiratet haben, wurden 260 verschiedene Gerichte aufgetragen – und schließlich als Nachspeisen noch einmal alles bis dato Servierte in der zuckrigen Variante.

Scheinbar war das alles nicht süß genug, denn es folgten weitere Gänge wie Zuckerpasteten, in denen lebendige Vögeln saßen, sowie die Szene Christus am Ölberg – alles aus kretischem Zucker, der wie Gold gehandelt wurde.

In der Gegenwart muss man nach vergleichbarem Wahnsinn suchen, wird dann aber schnell in Persepolis fündig. Neben dem 33. Geburtstag seiner dritten Gemahlin Farah Diba feierte Schah Mohammad Reza Pahlavi 1971 gleich noch 2.500 Jahre persische Monarchie.

Gekrönte Häupter, Staatschefs und andere Würdenträger flogen auf einem eigens errichteten Flughafen ein und bekamen in einer Oasen-Zeltstadt, umgeben von frisch gepflanzten Wäldern, Blumen und zwitschernden Vogelimporten aus Europa Wachteleier mit kaiserlichem Goldkaviar kredenzt sowie 50 gebratene Pfauen, gefüllt mit allerlei luxuriösem Bombast. Dazu floss nicht nur der Château Lafite Rothschild 1945 in Strömen.

Kaleidoskop der Geschmacklosigkeiten (?)

Doch mit den Exzessen ist es in diesem Kaleidoskop lange nicht getan. Die Romanisten aus München und Berlin berichten genauso vom Segen der Bratwurst, über die teuersten Gewürze, Honoré de Balzacs extrastarken Kaffee, 1000-Euro-Käse, wie man "Göttlichen Nektar" herstellt – zwischen Spanferkelbauchspeck, Rosenwasser und olympischen Mandeln ist einiges geboten – oder über Tischfeuerwerke, die die Knallerei auf der Straße ersetzen könnten.

Bei allen Gruseligkeiten verlässt man diesen Kosmos der kulinarischen Exzentrik nur ungern. Und wenn doch, dann bloß für ein einfaches Butterbrot, um sich zwischendurch zu erden.


Tobias Roth, Moritz Rauchhaus: "Die Speise und Wunderkammer der exzentrischen Küche" (Verlag Das Kulturelle Gedächtnis, 320 Seiten, 28 Euro)

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