Blutberauscht im Untergang
Nach dem Krieg ist vor dem Krieg. Es ist die Rache des Friedens, dass die Verlierer sich zu Terror-Instrumenten gegen die Sieger machen, die ihnen ihre Kultur aufzwingen wollen. Den Bogen vom Hindukusch zum antiken Troja schlägt Tom Lanoye in „Atropa. Die Rache des Friedens. Der Fall Trojas”.
In der Verschneidung von Mythos und Gegenwart ist der flämische Autor „Schlachten!”-erprobt: Für Luk Perceval komprimierte er Shakespeares Königsdramen. Seine Familien-Analyse „Mamma Medea” machte Regisseur Stephan Kimmig zum Kammerspiele-Erfolg. Mit seiner „Atropa”-Inszenierung bleibt Kimmig hier allerdings unter seinen Möglichkeiten. Verdienter Premieren-Jubel für die großartigen Protagonisten Steven Scharf und Wiebke Puls sowie Katja Bürkle.
Opfer fürs militärische Glück
Atropa: Das meint das Europa des Atridengeschlechts, die lebenszerschneidende Göttin Atropos sowie das Gift der Tollkirsche Atropa Belladonna. Spielt aber alles keine Rolle: Die spielt ausschließlich der Krieg mit seinen politischen Absichtserklärungen und menschlichen Auswirkungen. Lanoye verknüpft nachdichtend Dramentexte von Euripides und Aischylos mit Zitaten von US-Ex-Präsident Bush und dessen Verteidigungsminister Rumsfeld zur Rechtfertigung ihrer Kriege in Afghanistan und im Irak. Er zeigt das Vorher und Nachher des Trojanischen Kriegs.
Vorher opfert General Agamemnon seine Tochter Iphigenie fürs militärische Glück. Nach der Niederlage beweinen die Troerinnen ihr Los, nach der siegreichen Rückkehr findet Agamemnon nur noch Feindinnen vor. Die Kriegsrhetorik der Politiker mit ihrem Geschwafel über Ehre, Werte, Kultur und Freiheit (für die besiegten Barbaren!) zeigt die Macht ideologischer Mechanismen, die auch das eigene Leben vernichten. Dagegen steht das Lamento der Frauen – eine selbstbewusste Anklage gegen Männerdenken.
Die schöne Helena als Punk-Göre
Manche lassen sich infizieren wie Iphigenie, die fanatisch den Märtyrertod sucht. Die schöne Helena (als Punk-Göre völlig fehl-inszeniert: Anna Maria Sturm) kann alles nur noch verachten, Klytämnestra ist besessen vom Rache-Gedanken für den Tod ihrer Tochter. Die weißen Eisenwände auf Katja Haß’ Bühne öffnen den Zugang zum Orkus – eine Tiefgaragen-Einfahrt.
Davor inszeniert Kimmig streckenweise trockenes Aufsage-Theater, das heutige Medienwirklichkeit sein will: Steif sprechen die Darsteller ihre Litaneien ins Mikro. Spannend wird es, wenn Kimmig dem hohen Tragödienton traut: Den Konflikt zwischen Klytämnestra und Agamemnon gestalten Wiebke Puls und Steven Scharf minimalistisch mit atemberaubender Intensität. Iphigenies Entwicklung vom Cheerleader-Hüpfgirlie zur fanatischen Märtyrerin macht Katja Bürkle ergreifend klar und später, als Agamemnons tochtergleiche Liebessklavin Kassandra, spielt sie die zynische Aggression sehr aufgesetzt.
Dass den Chor der Opfer-Frauen ein Mann (Walter Hess) spricht, leuchtet nicht ein. Mit Agamemnons Rechtfertigungs- und Beschwichtigungsfloskeln verteidigt Steven Scharf brillant die ach so humanen Ziele des Krieges und kehrt seine verletzlichen Seiten heraus – alles nur Zweck-Lügen. Außer seiner hündischen Liebe zu Kassandra. Aber da behält die grandiose Wiebke Puls das schmerzerfüllte letzte Wort. Die beiden machen den mit literweise Kunstblut übergossenen Diskurs doch zu packendem Theater.
Kammerspiele, 23., 27., 30.12.2011 und 6., 14., 25.1.2012 Tel. 23396600
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