Biedermeierliche Schrebergartenfreuden

Im Zeichen der Neuen Bürgerlichkeit widmen sich Klassik-Labels vermehrt dem Volkslied. Über ein Buch mit deutschen Wiegenliedern hält sogar Bundeskanzlerin Angela Merkel ihren Schirm
von  Abendzeitung

Im Zeichen der Neuen Bürgerlichkeit widmen sich Klassik-Labels vermehrt dem Volkslied. Über ein Buch mit deutschen Wiegenliedern hält sogar Bundeskanzlerin Angela Merkel ihren Schirm

Valeri, valera! Das Wandern kann einem schon vergehen, bei so frisch-fröhlich-freien Müllersburschen. Zum Städtele hinaus muss man heut’ eh dauernd. Und ans Brünnele geht wohl auch keiner mehr, um den herztausigen Schatz mit einem andern flirten zu sehen.

Volkslieder? Sind jahrezehntelang im Stadel versumpft oder durch den Schlund grausiger Massenchöre gewandert. Gott hilf!, konnte man da nur flehen. Doch langsam scheint sich das Blatt zu wenden, die gute alte Volksweise erfährt eine zum Teil hochkarätige Renaissance. Ob nachhaltig, das wird sich noch zeigen.

In einer geradezu konzertierten Aktion schmettern Opernheroen und Kunstlied-Kapazitäten den „lieben Mai“ an, sie beklagen „entzwei gesprungene Ringlein“ und bitten uns, „immer Treu und Redlichkeit“ zu üben. Sony hat dafür Stars wie Jonas Kaufmann, Annette Dasch oder den über alles erhabenen Christian Gerhaher zusammengetrommelt. Das Album „Wenn ich ein Vöglein wär“ kam eben auf den Markt – versehen mit einem hübsch bebilderten Booklet, inklusive Liedtexten und Vogerln auf dem Titel.

Verteilt und beschirmt

Singer Pur, Echo-verwöhntes A-Cappella-Ensemble mit Regensburger Domspatz-Wurzeln, bot im Juni eine wohlklingende Steilvorlage unter dem Titel „Letztes Glück“ (Oehms Classics). Die Lieder stammen aus der deutschen Romantik – und selbst mit der ausgeleierte Rheinsirene Loreley kann man hier Frieden schließen.

Wobei die „Wiegenlieder“ aus dem Carus-Verlag quasi den Startschuss zur neue Liedliebe gaben: Schon seit einem Jahr dominiert der aufwändige Band die Bestsellerlisten, Teil 2 liegt seit März in den Buchhandlungen, im Herbst folgen die „Volkslieder“. Natürlich auch mit fein besungener CD – mancher Knirps hat dergleichen noch nie vernommen. Und also wurde die Wiegenlied-Scheibe großzügig an über 8000 Kindergärten verteilt. Dass die Bundeskanzlerin daselbst den Schirm über so ein Zukunftsprojekt hält, versteht sich fast von selbst.

Eine gute Sache, finden die meisten, Lehrer wie Kinderärzte sowieso, und wir wollen mit Lob nicht zurückstehen. Nur kann man sich des Eindrucks kaum erwehren, dass sich die ganze Chose famos in die neue-alte Bürgerlichkeit der Deutschen fügt: zum wieder entdeckten Schick von Eiche-rustikal-Küchenzeilen, karierten Wanderhemden (allerdings aus Higtech-Fasern) und tortensüßen Damenkränzchen mit Filterkaffee. Oder biedermeierlichen Schrebergartenfreuden, denen selbst das hippe Münchner Lounge- und Partyvolk auf langen Wartelisten entgegenfiebert.

Nichts desto trotz darf man sich die neuen Scheiben ruhig auflegen. Denn wenn der fabelhafte Helmut Deutsch am Flügel sitzt und Salzburgs neue Sopranentdeckung Christiane Karg den Mai endlich hersäußelt oder Wagner-Tenor Klaus Florian Vogt das holde Mädchen anhimmelt, dann geht einem doch grad das Herz auf.

Christa Sigg

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