Bewusstlos, aber anwesend

So hochmotiviert manche Körper im Laufe von Radikal jung in Bewegung geraten sind, sich dehnend und streckend, halbnackt und fit in der Performance "Fugue Four : Response" gleich am Eröffnungstag, so starr und still werden sie mitunter in den Gastspielen der zweiten Wochenhälfte in Szene gesetzt. Als ob das Leben allmählich aus den Körpern und dem sich dem Ende zuneigendem Festival weicht.
Wie eine Statue stand da etwa die Großmutter von Kim de l'Horizon, verkörpert von Iris Albrecht, auf der Hauptbühne des Volkstheaters, zu Beginn von Jan Friedrichs ansonsten recht vitaler Adaption von de l'Horizons "Blutbuch". Auf ähnliche Weise erstarrt erscheint die Familie, die man einen Tag darauf auf der Bühne 2 des Volkstheaters, in einer realitätsnah eingerichteten Wohnung, beobachten darf.
Vor einem alten Fernseher sitzt da ein älteres Paar, der Blick auf die Bildröhre gerichtet, der Mann wie eingefroren, die Frau nebenbei beschäftigt mit Kleidungsstücken, die sie zusammenfaltet.
"Goodbye, Lindita" heißt die Performance, der Titel bezieht sich auf die verstorbene Stiefmutter von Regisseur Mario Banushi. Sein Abschied von ihr vollzieht sich im Grunde auf der Bühne - die dargestellte Trauerarbeit ist Teil der Trauerarbeit Banushis, der diesen Abend für das Griechische Nationaltheater Athen inszenierte.
Er selbst tritt nach einer Weile überraschend als Akteur auf, verlässt abrupt seinen Platz im Zuschauerraum, um an den etwas seltsamen Begräbnisritualen auf der Bühne teilzunehmen.
Den größten Knalleffekt des Abends hat man da bereits erlebt: Nachdem ohne Worte das Tableau einer trauernden Familie etabliert wurde, entpuppt sich eine große Kommode als Aufbewahrungsort für eine Leiche. Im aufgeklappten Innern liegt da eine nackte Frau, regungslos wie auf einem Totenbett, hat jedoch noch einiges an gespenstischem Leben in sich. Der Abend erweist sich als schön ausgeleuchtete Choreographie voller Kippmomente zwischen Realität und Fantasie. Da tritt zum Beispiel eine junge schwarze Frau mit einem Reisigbündel in der Hand in die Wohnung, hängt ein goldenes Marienbild ab, um im Hohlraum dahinter zu verschwinden und später selbst als schwarze Madonna zu erscheinen.
Insgesamt herrscht hier heiliger Ernst: Die religiösen Rituale, die er zeigt, betrachtet Banushi offenbar nicht kritisch, sondern als willkommene Möglichkeiten, den Tod eines geliebten Menschen zu verarbeiten. Das Schweigen der Familie ist nicht bedrückend, sondern zeugt von dem gegenseitigen Einverständnis, dass es keiner Worte bedarf, um gemeinsam zu trauern. Manchmal entsteht eine spannende Dualität zwischen Leben und Tod. So wird die Matratze des seitlich stehenden Bettes nach einiger Zeit entfernt, der Bettkasten mit Weihwasser gefüllt und der Leichnam von allen gesäubert, was an eine Totenwaschung, aber auch an eine Taufe erinnert. Das traditionelle Gewand, das die Tote von der Gruppe angezogen bekommt, sieht wiederum wie ein Hochzeitskleid aus.
Jedem Ende wohnt ein Anfang inne, will uns Banushi sagen. Das hat sicherlich etwas Tröstliches, aber wer sich auf die tränenreiche Emotionalität und schwerwiegende Symbolhaftigkeit seiner Inszenierung nicht einlassen will, findet diese ins (Alb-)Traumhafte gehenden Trauerarbeit wohl vor allem kitschig.
Eine deutliche Spur härter verspricht das Festivalfinale am heutigen Samstag zu werden. Auf der Bühne 2 des Volkstheaters bietet eine Show aus den Niederlanden drastisch-freizügiges Entertainment: "Up your Ass" von Nona Demey Gallagher und Liselot Siddiki beruht auf dem gleichnamigen Stück der radikal-feministischen Schriftstellerin Valerie Solanas, die vor allem in den 1960ern durch ihren Mordversuch an Andy Warhol und als Verfasserin des "SCUM Manifestos" bekannt wurde (Vorstellungen um 16 und 20 Uhr).
Auf der Hauptbühne des Volkstheater gerät indes eine Frau bewusst in Bewusstlosigkeit: Ausgehend vom Femizid an der Aktionskünstlerin Pippa Bacca thematisieren Carolina Bianchi und ihr Kollektiv Cara de Cavalo aus São Paulo nicht nur, wie Frauen immer wieder Opfer männlicher Gewalt werden, sondern Bianchi selbst nimmt auf der Bühne K.-o.-Tropfen ein, um ohnmächtig zu werden.
"The Cadela Força Trilogy Chapter 1 - The Bride and The Goodnight Cinderella" wurde im letzten Jahr beim Festival in Avignon uraufgeführt und ist nun Schlusspunkt von Radikal jung.
Programm und Karten auf der Webseite des Volkstheaters: www.muenchner-volkstheater.de