Belüge dich selbst!
Trotz Schnupfen das Leben auskosten und dem Tod ein Schnippchen zu schlagen: Das rät Woody Allen bei der Vorstellung seines Films „You Will Meet A Tall Dark Stranger“ am Festival in Cannes
Er muss sich nicht selbst stilisieren, er ist so: Während endlich Frühsommer an der Cote d’Azur ausgebrochen ist, hat er Schnupfen. So trinkt der Hypochonder Woody Allen „very british“ Tee während der Pressekonferenz und erfüllt seine Rolle: Er verbreitet mit leiser heiserer Stimme ironischen Pessimismus: „Mein Blick auf das Leben ist seit meiner Kindheit immer der gleiche: Es ist alptraumhaft, gemein und hoffnungslos. Der einzige Weg daraus zu entkommen, ist sich selbst Lügen vorzumachen.“
Und so ist es am Ende von Allens „You Will Meet a Tall Dark Stranger“ auch nur die ältere Londoner Lady (Gemma Jones), die glücklich wird. „Durch albernen Selbstbetrug!“, wie Woody Allen betont. Denn die Frau schleppt Unsummen zu einer Wahrsagerin. Durch ihren Glauben an die vorhergesagte bessere Zukunft schafft sie den Sprung ins neue Glück, nachdem ihr Mann (Anthony Hopkins) viagra-gestärkt mit einer Prostituierte durchgebrannt ist – und auf die Nase fällt.
Ein alter Romantiker
Warum er diese Rolle nicht selbst übernommen hat? „Weil ich seit ungefähr zwei Jahren“, sagt Allen mit jetzt 74 unter Gelächter, „als romantischer Liebhaber damit konfrontiert bin, dass immer der junge Mann das sexy Mädchen bekommt.“
Diesmal hat Woody Naomi Watts neben sich am Roten Teppich und sieht daneben gar nicht alt aus. „Mr. Allen, was ist ihre Meinung zum Tod?“, wird er gefragt: „Ich bin entschieden dagegen!“, sagt er lächelnd und putzt sich die verschnupfte Nase.
Mittlerweile hat der Wettbewerb an Fahrt aufgenommen: Der Brite Mike Leigh hat wieder die Stärke des realistischen, lebensnahen Kinos gezeigt: In „Another Year“ lernt man ein älteres Ehepaar kennen, deren Haushalt und Garten den herzlichen Mittelpunkt für Freunde und Verwandte bildet. Und schon nach wenigen Minuten gehört man dazu, meint viele der tragischen, gescheiterten Figuren aus dem eigenen Leben zu kennen. Mike Leigh hat im Presseheft sechs Seiten die Preise seiner Filme (wie „Happy-Go-Lucky“, „Vera Drake“, „Ganz oder gar nicht“ abdrucken lassen, als müsse man die Qualität seiner Filme erst beweisen, weil sie in ihrer unspektakulären Art immer schwerer Publikum finden.
Den Wettbewerbs-Hütern in Cannes ist das egal. Sie wollen einfach gute Filme zeigen. So war gestern „Ein Mann, der weint“ von Mahamad-Saleh Haroun aus dem Tschad zu sehen, über einen Vater, dessen heile Welt vom Bürgerkrieg erfasst wird. Man sieht vom näher rückenden Krieg nichts, nur seine verseuchende Wirkung auf den Alltag. Das ist die Kunst dieses wunderbaren Films.
Kühler deutscher Beitrag
Vielleicht, weil der Wettbewerb unspektakulär bleibt, weicht das Interesse in die Spezialreihe „Un certain regard“ aus. Hier wurde der einzige offizielle deutsche Beitrag vorgestellt: „Unter dir die Stadt“ von Christian Hochhäusler, die Geschichte einer jungen entwurzelten Frau. Sie geht eine Affäre mit einem Spitzenbanker ein, dem Ober-Chef ihres ehrgeizigen Gatten. Plötzlich riskieren beide etwas zu viel in ihrem Spiel.
Gelobt wurde vor allem die Kamera von Bernhard Keller, die fantastische Kühle und die Perspektiven auf die Frankfurter Bankenwelt. Was heißt, dass der Film kalt ließ. Jetzt soll Takeshi Kitano im Wettbewerb der Brutal-Aufreger werden und der Mexikaner Inarritu („Babel“) hart, aber herzlich seine Mafiageschichte „Biutiful“ erzählen. Davon morgen mehr.
Adrian Prechtel