Barcelonas Schattenwelt
Der mexikanische Regisseur und Cannes-Sieger von 2006, Alejandro Gonzales Inárritu, reißt das Festival in Cannes aus dem Tiefschlaf und gilt nun mit „Biutiful“ als erneuter Favorit
Vorgestern Nacht wirkte Cannes wie in deutscher Hand: Im Palais Stephanie an der Croisette gibt die „Hollywood Financiers Alliance“ eine Kellerparty. Der Raum sieht aus wie eine schlechtere weiße 80er-Jahre-Disco. Die Gründerin der Organisation, die die Rechte der Geldgeber der Filmindustrie vertritt, ist Jeannette Bürling vom Ammersee, die vor Jahren ihre Green Card, die begehrte US-Arbeitserlaubnis, in einer Lotterie gewonnen hat.
Jetzt produziert sie Filme mit Mickey Rourke, Pierce Brosnan oder sogar ein Musical mit Catherine Zeta-Jones. Sie steht im schillernd grünen Kleid zwischen Smoking- und Poloshirt-Trägern. In den zu hörenden Satzfetzen ist immer wieder von viel „Cash“ oder „great Project“ die Rede.
Champagner – für die schwarzen französischen Kellner schmerzend kaugummi-amerikanisch „Tschampäiin“ ausgesprochen – fließt. Die Self-Made-Men-Amis sind undezent laut. Hier herrscht nicht die kühl-brutale Herrenausstatter-Atmosphäre der Ostküsten-„Wall Street“, hier feiert sich der erfolgreiche Steuerberater oder Immobilien-Hai, der rechtzeitig vor der Krise ausgestiegen ist.
Die Nacht bleibt warm
Am Strand davor feiert „Next Generation“. Was amerikanisch klingt, ist die deutsche Film-Lobby, die kommende Regietalente von den deutschen Filmhochschulen nach Cannes eingeladen hat. Die Nacht bleibt warm, das städtische Feuerwerk über dem Hafen lässt die Yachten bunt aufleuchten. Alles wäre wie immer, wenn nicht der Wettbewerb so schwächeln würde. Der Gewalt-Japaner Takeshi Kitano, der einmal ein einfühlsamer Erzähler war („Hana-Bi – Feuerblume“), zeigt schon zum x-ten Mal nur Ballermänner der japanischen Yakuza-Mafia: Nichts wird erzählt, es wird nur geschossen oder – aber nicht nur – Finger abgehackt.
Erst Alejandro Gonzales Inárritu brachte die Erlösung: Vor genau zehn Jahren hatte er in Cannes seinen weltweiten Siegeszug angetreten mit „Amores Perros“, einem wilden Episoden-Porträt über seine Heimatstadt Mexiko-Stadt, das Gael Garcia Bernal zum jungen Latinostar machte. 2006 gewann Inárritu den Regiepreis für „Babel", der allein außerhalb der USA 100 Millionen Dollar einspielte. Jetzt hatte „Biutiful“ Premiere und wurde bejubelt: Es ist die Geschichte eines Ganoven, der illegalen Einwanderern Unterkunft und Arbeit gegen Schutzgeld verschafft. Ein Mann an der Grenze zwischen unserer und der Schattenseiten-Welt unserer Gesellschaft.
Dieser Mann ist Javier Bardém und er hat schon jetzt mit seiner Extremdarstellung des im Endstadium krebskranken Klein-Mafioso den Darstellerpreis verdient. Denn er spielt den Sensiblen im schonungslosen, auch kriminellen Überlebenskampf, in dem jeder Schuld auf sich lädt, die ihn zerfrisst. Irritierend an allem ist für uns der Ort: Barcelona. Diese Stadt ist hier in keiner einzigen Postkarteneinstellung zu sehen, sondern in ihren grauen, slum-artigen Straßen – die verdrängte soziale Wirklichkeit neben uns.
Adrian Prechtel