AZ-Interview: Jutta Speidel mit „Sozialstern des Jahres“ von AZ ausgezeichnet

Vor 20 Jahren hat die Schauspielerin die Initiative Horizont für obdachlose Kinder und deren Mütter gegründet. Dafür bekommen Jutta Speidel und Horizont e.V. eine Auszeichnung der Abendzeitung verliehen.
Adrian Prechtel |
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48 neue Wohnungen für sozial benachteiligte Münchner Familien: Jutta Speidel im Oktober bei der Grundsteinlegung ihres zweiten Horizont-Hauses am Domagkpark. Begeistert fliegt schon mal die danach eingemauerte Zeitkapsel in die Luft.
Ursula Düren / dpa 48 neue Wohnungen für sozial benachteiligte Münchner Familien: Jutta Speidel im Oktober bei der Grundsteinlegung ihres zweiten Horizont-Hauses am Domagkpark. Begeistert fliegt schon mal die danach eingemauerte Zeitkapsel in die Luft.

Vor 20 Jahren hat die Schauspielerin die Initiative Horizont für obdachlose Kinder und deren Mütter gegründet. Dafür bekommen Jutta Speidel und Horizont e.V. eine Auszeichnung der Abendzeitung verliehen. Im Interview erzählt sie von ihren Erfahrungen.

München - Horizont ist eine gemeinnützige Initiative für obdachlose Kinder und deren Mütter. 24 Appartements stehen bisher zur Verfügung, in denen Mütter mit ihren Kindern eigenständig, aber geschützt leben, bis die Betroffenen eine langfristige Bleibe und Perspektive finden. Im kommenden Sommer soll das zweite Haus eröffnen.

AZ: Frau Speidel: Seit 20 Jahren gibt es den Horizont e.V., der stark von Ihrem Engagement und Ihrer Stiftung lebt. Haben sich die Fälle, mit denen Sie konfrontiert werden, im Laufe der Jahre verändert?
JUTTA SPEIDEL: Nein. In dieser Beziehung hat die Gesellschaft keinen Fortschritt gemacht. Ich sage: "Denkst du einmal, du kannst nicht mehr, kommt bestimmt noch was Schlimmeres daher!" Frauen und ihre Kinder, die wir aufnehmen, sind meist bitterarm, ihre Habseligkeiten passen in eine Plastiktüte.

Wie erleben Sie diese Frauen?
Am Anfang kommen Frauen zu uns, die so fertig sind, deren Selbstwertgefühl so kaputt gemacht wurde, dass manche nicht einmal mehr etwas einkaufen gehen können. Einige waren auch jahrelang in einer Wohnung festgehalten, manchen hatte der Mann den Pass und jedes Geld abgenommen. Für diese Frauen hat es eine unheimliche Energie gekostet, zu fliehen. Und diese Energie ist ein gutes Startkapital, auch wenn diese Frauen erst einmal völlig verunsichert, traumatisiert und elend bei uns ankommen.

Was machen Sie im Horizont-Haus als Erstes?
Die Ankommenden dürfen wirklich ankommen, wir nehmen sie liebevoll auf und lassen sie auch erst mal in Ruhe, wenn sie das brauchen. Und dann begleiten wir sie anfangs, wenn sie das Haus verlassen. Da kann es schon ein Erfolgserlebnis sein, wenn diese Frauen sagen: "Ich geh mal schnell zum Bäcker".

Wie kommen Sie an diese Menschen innerlich ran?
Durch Heilpädagogik, Kunsttherapie oder diskrete Familienaufstellungen. Wir haben auch Familien-Coachs. Der Zustand von Kindern wird oft anfangs überschätzt, weil sie sich gut ablenken lassen – durch Sport, Spiele und lustige Situationen. Aber man muss genau hinschauen, Verhaltensmuster erkennen. Da merkt man oft: Da ist gar nichts heil.

"Als Kind kann man sich nicht aussuchen, in welche Verhältnisse man hineingeboren wird"

Wie verarbeiten Sie das und vermeiden, ein pessimistisches Menschenbild zu bekommen?
Ich bin ja nicht die Sozialpädagogin oder Psychologin, die in die Fälle eintaucht. Die müssen natürlich – wie ein Arzt – professionellen Abstand haben, sonst wird man irre. Ich selbst erlebe die Frauen und Kinder eher im Alltag. Das ist etwas anderes.

Was hat Sie bewogen, sich genau dafür zu engagieren?
Es war die Idee, dass man sich als Kind nicht aussuchen kann, in was für Verhältnisse man hineingeboren wird. Ich finde es erschütternd, dass manche Kinder keine Chance haben, in ein normales Leben einzusteigen, oft auch weil die Mütter selbst gebrochen oder zu schwach sind, nachdem was sie erlebt haben. Wir schauen, was in den Menschen steckt, was sie für tolle Begabungen haben. Und dann fördern und fordern wir. Denn Ziel ist es ja, dass die Menschen ein eigenständiges Leben führen können.

Das klingt nach einer befriedigenden Aufgabe.
Ja, die Arbeit für Horizont ist ja keinesfalls nur niederschmetternd. Im Gegenteil, es ist wunderbar zu sehen, was gelingt. Wir hatten eine Frau da, die war jung zur Schneiderin ausgebildet, kam nach Deutschland und hat 10 Jahre unter schrecklichen Bedingungen gelebt. Sie hat dann von uns ermutigt begonnen, kleinere Schneiderarbeiten zu machen. Anfangs Kostüme fürs Theater, dann sind andere zu ihr gekommen und haben gefragt: Können sie mir aus meinem Stoff ein Sommerkleid machen? Und heute arbeitet sie als selbstbewusste Frau in einem Couture-Laden und hat jetzt sogar die Chance, den Laden zu leiten. So etwas gibt immer wieder Kraft, sich neuen Fällen zuzuwenden und nicht den Mut zu verlieren..

Ihr erstes Haus eröffnete vor 20 Jahren als Auffangstation. Was ist das Ziel des zweiten Hauses, das kommenden Sommer fertig werden soll?
Es ist der zweite Schritt: der Schritt zurück ins normale Leben. Es nützt ja nichts, wenn man Menschen stabilisiert, sie dann aber ohne Arbeit und Wohnung wieder ins Nichts fallen und abstürzen lässt. Da helfen gerade auf dem schwierigen Münchner Wohnungsmarkt unsere neuen 48 Appartements. Auch hier im Domagkpark wird es neben dem Wohnen um Kinderbetreuung bis hin zu den Hausaufgaben und Prüfungsvorbereitung und Ferienkurse gehen. Da gibt es dann auch Mittagessen, ein Ganztagsbistro, Workshops und eine Kulturbühne. Das alles wird ganz offen in das Viertel hineinwirken.

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Was hat Sie bei alledem überrascht?
Dass es auch Gewalt von Kindern gegen ihre Mütter gibt. Wir hatten mal einen Jungen von einem halben Jahr, der hatte schlimme Sachen erlebt. Er ging schon mit gut einem Jahr auf seine Geschwister und Mutter mit spitzen Gegenständen los. Er hat das wiederholt, was sein Vater und dessen Bruder der Familie angetan haben. Aber das ist schrecklich, wenn das in so einem kleinen Kind, das noch nicht einmal reden konnte, schon drinsteckt.

Was ist das Wichtigste für die Zukunft?
Viele junge Menschen, die jetzt schon ein kleines Kind haben, haben große Defizite. Sie haben viel Zeit in ihren digitalen Welten am Computer verbracht und da nur Grausamkeit, Kampf und Respektlosigkeit erlebt. Solche Werte-losigkeit kann nicht spurlos an einer Generation vorübergehen. Wir haben uns als Kinder auch geprügelt am Pausehof, aber das wird heute – finde ich – härter ausgetragen. Bei vielen ist verloren gegangen, den anderen Menschen als Menschen zu spüren. Man muss Menschen ein Selbstwertgefühl geben und sie andere Menschen als Menschen spüren lassen.

Wie macht man das?
Mit ihnen reden als Lehrer, Coaches, Psychologen und Mitmenschen und sagen: Trag’ deine Probleme nicht mit dir rum! Bequatsche es nicht immer nur mit deinen Freunden oder Freundinnen, die meistens ja immer nur ins gleiche Horn blasen. Öffne dich anderen, auch Lehrern, Therapeuten, Vertrauenspersonen.


Zur Person

Die 62-jährige Münchner Schauspielerin wurde mit "Die Lümmel aus der ersten Bank" bekannt. 1974 spielte Jutta Speidel die Hauptrolle in Rainer Erlers "Die letzten Ferien". Durch TV-Serien wie "Um Himmels willen" erreichte sie ein Millionenpublikum.

Wer HORIZONT e.V. unterstützen möchte, erreicht die Geschäftsstelle unter folgender Adresse:
Fürstenstr. 5, 80333 München, Telefon 089/23 88 83 90, E-Mail: info@horizont-ev.org, www.horizont-ev.org
Spenden-Konto: Stadtsparkasse München IBAN: DE06 7015 0000 0000 1022 02, BIC: SSKMDEMM
Informationen zu ehrenamtlichem Engagement: Renata Farkas, Telefon 089/31 90 11 30

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