Ausrufezeichen Zollverein!
Ende der Orientierungslosigkeit: Das Ruhrgebiet hat neues Selbstbewusstsein und ist mit erstaunlicher Begeisterung für Kunst und Kultur eine würdige Kulturhauptstadt 2010
Gerade erst haben sie die gelben Leuchtsignale wieder eingeholt überm Pott: Die „Schachtzeichen“, die „größte Kunstinstallation der Welt“, bei der 311 gelbe Gasballone über den alten Schächten im Ruhrgebiet schwebten, waren von Wind und Wetter arg gebeutelt worden. Doch darauf kam es eigentlich gar nicht mehr an. Die Aktion wurde zu einem großen Volksfest, bei dem Tausende auf Türme und Halden stiegen, um die Ballone als Zeichen einer nicht nur großen, sondern auch großartigen Vergangenheit ihrer Region zu erkennen.
Zwei Jahrzehnte lang hatte das Ruhrgebiet nach dem großen Zechensterben nach einer neuen Identität gesucht, hatte mit der Internationalen Bauausstellung (IBA) Emscherpark von 1989 bis 1999 Umdeutungen und Strukturwandel über sich ergehen lassen, hatte misstrauisch Kunst und Kultur beäugt, die Stück für Stück die alten Industriegiganten besetzten. Und nun, mit Ruhr 2010 und Essen als Kulturhauptstadt Europas, ist es soweit: Der Pott, in dem nur noch vier Zechen und zwei Kokereien in Betrieb sind, weiß wieder, wer er ist.
Das war nicht unbedingt vorauszusehen: Wer vor zehn Jahren die Hinterlassenschaften der IBA besuchte, stand oft mit deren Chef, dem legendären Stadtplaner Karl Ganser, allein auf weiter Renaturierungs-Flur. Die Architektur war da, die Kultur auch, doch die Menschen im Ruhrgebiet wunderten sich, was das alles soll. Und als beim Start ins Kulturhauptstadt-Jahr die Eröffnungsfeier von Grönemeyer-Kitsch umwaberte wurde, schienen sich die schlimmsten Befürchtungen vom Provinz-Pott zu bestätigen.
Alphörner blasen einen Mond mit 27 Metern Durchmesser an
Szenenwechsel: Fritz Pleitgen sitzt im Café des neuen Ruhr-Museums. Um den Geschäftsführer der Ruhr 2010 GmbH drängen sich die Menschen auf dem Weg zu den Kassen. „Ich bin selbst überrascht über das, was wir hier losgetreten haben“, sagt er. Seit der Eröffnung im Januar kamen 200000 Menschen ins neue Ruhr-Museum auf Zollverein.Insgesamt werden auf dem Weltkulturerbe-Gelände heuer weit über eine Millionen Besucher erwartet. Zollverein ist vom monströsen Fragezeichen einer sterbenden Industrie zum riesigen Ausrufezeichen für ein neues Ruhrgebiet geworden, in dem es wieder Hoffnung gibt. Die Hotels melden zweistellige Zuwächse bei den Übernachtungen. Museumchef Theo Grütter überrascht mit Naturstatistik: „Inzwischen haben wir im Ruhrgebiet den 400fachen Artenbestand wie vor der Industrialisierung.“
Überall strömen die Menschen zu den umgewidmeten Monumenten der Industriekultur: Im Gasometer Oberhausen haben bislang 630000 Menschen die Ausstellung „Sternstunden“ besucht. Momentan kann es passieren, dass das Dach des Gasometers wegen Überfüllung geschlossen wird. Drinnen blasen Alphörner einen künstlichen Mond an, der mit 27 Metern Durchmesser natürlich „der größte Mond auf Erden“ ist.
Und es geht nicht nur um Masse, sondern auch um Klasse: Im beschaulichen Unna belegt das Zentrum für Internationale Lichtkunst die Keller der ehemaligen Lindenbrauerei. In meditativer Stille leuchten dort sensationelle Werke von James Turrell, Olafur Eliasson oder Keith Sonnier – eine, wie sich allmählich herumspricht, weltweit einmalige Sammlung.
Natürlich kann man auch kritisch sein: Das Ruhrmuseum ist didaktisch nicht unproblematisch, man verläuft sich in einem Gewirr aus Räumen. Es wird berichtet vom „Wahnsinn der 1000 Arbeitsgruppen“ der berüchtigten Ruhr-Bürokratie sowie der einfältigen „Logomanie“ der Sponsoren, die glauben, gegen Geld jedes Kulturdenkmal mit ihren Signets tapezieren zu können. Und für den Umbau eines prächtigen alten Speichers zum Landesarchiv in Duisburg wurde das Projekt für 2,5 Millionen Euro an einen Investor verkauft, der dann einen atemberaubend teuren Nutzungsplan vorlegte – nun kauft das Land zähneknirschend (und stillschweigend) den Speicher wieder für 5 Millionen zurück. Noch ein Hammer: Die umgebaute Zeche Nordstern will sich einen 18 Meter hohen „Herkules“ von Markus Lüpertz auf den alten Förderturm setzen – als bräuchte das Denkmal eine zur absurden Größe aufgeblasene Kühlerfigur.
Doch das sind nur die negativen Zeichen einer Region im fulminanten Wandel. Beim von David Chipperfield großteils neugebauten Folkwang-Museum in Essen kann man die Schlangen der Besucher schon von draußen sehen. Das Designzentrum auf Zollverein hat die höchsten Besucherzahlen in Deutschland; die vor dem Gelände gelegene Zollverein School of Management and Design residiert in der schönsten Beton-Architektur der Gegenwart von den Pritzker-Preisträgern Sanaa aus Japan. „Eine besonders arme Region hat ein besonderes Recht auf Schönheit“, hatte Karl Ganser vor über zehn Jahren zum IBA-Abschluss dem damaligen Bundeskanzler Schröder zugerufen – was der gar nicht lustig fand.
Unterdessen sind im Landschaftspark Duisburg, so heißt das ehemalige Thyssen-Gelände heute, die Kirschbäume groß geworden. Die Freiflächen hinter den Erzbunkern sind ein weltweit beachtetes Modell für die Renaturierung alter Industrielandschaften und in den klosterartigen Kräutergärten wachsen und blühen Frauenmantel, Lavendel, Rittersporn und Salbei. Am Hochofen ist im Sommer Freiluftkino mit 1000 Plätzen – und jeden Abend ausverkauft. Rund um die Uhr kann man auf die Kessel steigen, und selbst gegen Mitternacht ist es möglich, dass die sich auf schmalen Eisentreppen fackelbewehrte Kulturtouristen stauen. Und die Einheimischen? Da lächelt Dirk Büsching von der Landschaftspark-Verwaltung stolz: „Alle hier sagen: Das ist unser Park!“
Michael Grill
Infos im Internet unter www.ruhr2010.de. Hilfreich bei der Planung einer Kultur-Reise ist www.grand-tour-2010.de
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