Auf den Captain ist Verlass

Als Zaungast im Graben des Bayreuther Festspielhauses: Eindrücke von einer „Götterdämmerung“ unter Thielemann
von  Abendzeitung

Als Zaungast im Graben des Bayreuther Festspielhauses: Eindrücke von einer „Götterdämmerung“ unter Thielemann

Hans Richter, Richard Strauss, Toscanini, Karajan, Böhm, Boulez, Kleiber... Ein neuer Dirigent hat hier gut schlucken: Wer über eine Rampe zum Orchestergraben marschiert, passiert eine Ahnengalerie, die’s in sich hat. In Reih und Glied hängen hier alle, die in Bayreuth am Pult standen, selbst die Einspringer und Eine-Saison-Fliegen. Christian Thielemann biegt ums Eck und nimmt den Aufgang mit großen Schritten.

Damals, als er hier bei Daniel Barenboim in die Lehre ging und die dicken Partituren im Gegensatz zum Meister schon auswendig dirigieren konnte, hat er den Porträts vermutlich noch intensive Blicke geschenkt. Seit neun Jahren hängt sein Konterfei selbst in der Reihe. In den historischen Hügel-Charts belegt er schon im zarten Dirigentenalter von 50 einen der vorderen Plätze. Das macht locker. Stellenweise sogar lässig. Und vermutlich erlebt man den unbequemen Orchesterchef nirgends so entspannt wie in der Gralsburg, die längst sein Revier geworden ist.

Fünf vor vier taucht er im Graben auf, wie immer sportlich in Blockstreifen-Polo und Jeans, auch das glatte Haar trägt er wieder mal eine Spur zu kurz. Der Konzertmeister bekommt einen kollegialen Handschlag, dann lässt sich der Boss auf seinen schrappligen Holzthron fallen. Nochmal tief durchatmen, ein paar Lockerungsübungen, launige letzte Worte mit den Geigern, ein Scherz in Richtung Klarinetten. Die Stimmung ist prima auf dieser Raumstation, das Logbuch „Götterdämmerung“ aufgeschlagen, grünes Licht für Commander Chris.

Es kann heiß werden: 124 Musiker arbeiten auf 140 Quadratmetern

Punkt vier gellen die Tuben, martialisch und finster. Versöhnlicher fahren die Flöten fort, mit den Streichern breitet sich der Rhein aus, erneut durchbrechen die Tuben den wohligen Fluss. Selbst wer diesen letzten Teil der „Ring“-Tetralogie noch nie gehört hat, wüsste sofort: Hier dräut Unheil. Da müssten die Nornen gar nicht so ausführlich werden. Aber was wäre die Wagnerei ohne Ausdehnungen, ohne dieses Wieder-und-wieder-und-noch-einmal? Was wären diese Dramen ohne die selbst im Todeskampf redseligen Helden mit all ihren bedeutungsschwangeren Reimen, was ohne die subversive Kraft der Motivketten, die das Großhirn langsam aber sicher ins Delirium ziehen?

Unten im „mystischen Abgrund“ herrscht Nüchternheit. Und höchste Konzentration. Hier wird am Rausch gebastelt, präzise, punktgenau. Die Herren aus der letzten Reihe hängen die Tuba an den Ständer, schnappen eine Stoppuhr und schleichen sich vorsichtig hinaus. Auf ihren Captain können sie sich verlassen. Die Tempi sitzen, der Mann hat sämtliche Satelliten im Griff – und bewegt sich in diesen zwei Stunden schon mal in die Horizontale. Während Thielemann in der Philharmonie stehend nach vorn gebeugt manchmal fast den Boden umzugraben scheint, lungert er hier wie ein Drummer hinter seiner Batterie, rührt mit dem Taktstock und seiner offenen Linken, als hätte er Jazz-Besen in der Hand. Schubiduabduab. Hagen spinnt dazu düster seine Intrigen. Der mächtige Bass des Hans-Peter König poltert trotz Schalldeckel bis in die letzten Grabenreihe. Wommbomm tomm tomm. Die Pauken donnern, der Chef lächelt anerkennend nach unten.

In Bayreuth ist alles umgekehrt. Die hohen Streicher residieren oben, die Cello-Gruppe drapiert sich in zwei Lagern drumherum, dann geht’s über die Flöten, Oboen, Klarinetten hinab zu den Hörnern. Im tiefen Keller sitzen Tuben und Posaunen plus Schlagzeug. An den Seiten haben gerade noch Bässe und Harfen Platz. Klaustrophobiker sollte man in diesem Ferienjob wirklich nicht sein. Alle werkeln auf engstem Raum, 124 Plätze auf 140 Quadratmetern sind’s, die Decke ist nah. Dafür dürfen Frack und Fliege im Schrank bleiben. Shirts, Freizeithosen und Sporttreter dominieren. Sieht ja keiner. Und schließlich verbringen die Musiker hier ihren Jahresurlaub, sprich: die Sommerpause ihrer Heimatorchester. Keiner zwingt sie, alle haben Bock auf Wagner. Und auf Thielemann.

Das betont nicht nur der gemütliche Bassist von den BR-Symphonikern, der den Weltenbrand Stunden später mit Weizen löscht. Aber in den Ferien sind wir ja alle besser drauf als sonst. Offensichtlich auch der Generalmusikdirektor der Münchner Philharmoniker, der im Graben vom zwistigen Alltag an der Isar abtaucht.

Christa Sigg

merken
Nicht mehr merken
X

Sie haben den Inhalt der Merkliste hinzugefügt.