Auf dem Rummelplatz liegt ein Friedhof

Märchenhaft und weltvergessen: Die Freakfolker CocoRosie aus den Staaten spielten in der Muffathalle
von  Abendzeitung

Märchenhaft und weltvergessen: Die Freakfolker CocoRosie aus den Staaten spielten in der Muffathalle

Abheben und sich drehen und im Rausch der Kreisbewegung verlieren. Darin liegt das Vergnügen eines Kettenkarussells, eines sauste dahin, auf der Videoleinwand in der Muffathalle, als CocoRosie die Bühne betraten. Ihr Kosmos ist ein Rummelplatz des „anything goes“, in dem sie alle möglichen Genres – Oper, Folk, HipHop – durcheinander wirbeln, bis man beim Zuhören den Boden verliert.

Ekstase, Weltvergessenheit, das sind doch ansprechende Glücksversprechen, doch die Muffathalle war eher passabel gefüllt, vielleicht, weil nicht nur das Wetter, sondern auch der Hype um die beiden Schwestern abgekühlt ist. Luftig traten sie auf, Bianca mit Kopftuch, orientalisch gekleidet, Sierra im weißen Mantel, unter dem rote Boxershorts hervorglühten, womit sie sich den Bühnen-Dresscodes verweigern und auch optisch das Eklektische feiern. Zu Beginn „R.I.P. Burn Face“, ein Requiem mit assoziativer Friedhofslyrik, das berückend klingt, weil Sierra sie mit ihren Arienphrasen unterlegt und Bianca die Melancholie so herzergreifend wegquietscht. Was auf CD feingesponnen klingt, hört sich live weniger subtil, dafür mitreißender an, weil neben einem Drummer auch Beatboxer TEZ mit seiner mundgeblasenen Percussion verstärkten Drive gibt. Hinzugekommen ist der französische Pianist Gael Rakotondrabe, dessen Klaviermotive auch auf der neuen CD „Grey Oceans“ klare Linien im Klangnetz ziehen.

So richtig schräg sind sie nicht mehr, mal ein indisches Harmonium, mal ein wenig Kinderspielzeuggeräusch, daran hat sich das Ohr gewöhnt, und es klingt eigentlich nur noch – schön. Stabil auch die Rollenverteilung: Bianca, die Spröde, rappt bei der Zugabe „Tranny Power“, während die extrovertierte Sierra auf der Bühne turnt. Ausgelassenheit, infantile Freude, Regression: Bei „Hopscotch“ standen sie sich gegenüber und spielten ein Abklatschspiel. So werden sie das auch als Kinder gemacht haben, damals, als wir noch locker in die Karussellsitze passten.

Michael Stadler

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