Anziehend anzüglich

Beschwingt und schön versaut und ein wenig ordinär ist die Show: Ab nächster Woche ist die Berliner Produktion des Musicals »Cabaret« im Deutschen Theater zu sehen.
Abendzeitung |
X
Sie haben den Artikel der Merkliste hinzugefügt.
zur Merkliste
Merken
0  Kommentare
lädt ... nicht eingeloggt
Teilen  AZ bei Google News

Beschwingt und schön versaut und ein wenig ordinär ist die Show: Ab nächster Woche ist die Berliner Produktion des Musicals »Cabaret« im Deutschen Theater zu sehen.

Der Zug der Geschichte mag schwer durch persönliche Biografien dampfen – gegen die Leichtigkeit des Cabarets hat er zunächst mal keine Chance.

Bevor eine Dampflok sich durchs nostalgische Ambiente im lauschigen Spiegelzelt der Bar jeder Vernunft in Berlin dreht, durchbrechen Hände den Glitzervorhang, kommen die reizvollen Körper der Revuemädchen heraus, darunter auch Transvestit Frenchie. Einer mit dem „Eiffelturm in der Hose“, wie der dreckig lächelnde Conférencier meint, während die fünfköpfige Swing-Band im Kit Kat Klub gehörig Zunder gibt.

Beschwingt und schön

Beschwingt und schön versaut ist diese Show, ein wenig ordinär durfte es im Berlin der Goldenen Zwanziger schon sein. Der englische Autor Christopher Isherwood hat sich in dieser Zeit in der Metropole herumgetrieben und später seine Erinnerungen literarisch verarbeitet.

„Ich bin eine Kamera“, so begann er seine Erzählung „Goodbye to Berlin“, und so nannte John van Druten auch seine Bühnenadaption von 1951. Zwölf Jahre später veranlasste Broadway- Produzent Hal Prince die Umarbeitung des Dramas zu dem funkensprühendenMusical „Cabaret“, die Weltpremiere 1966 mit Lotte Lenya als Showgirl Sally Bowles war ein riesiger Erfolg.

Mit den Tanz-Girls auf Tuchfühlung

Im Zentrum standen auch die Erlebnisse der in die Jahre gekommenen Pensionswirtin Frau Schneider, die sich in den jüdischen Obsthändler Schultz verliebt – eine zum Scheitern verurteilte Beziehung, denn die Nazis machen sich Anfang der Dreißiger breit und die Denkräume eng. Die Parallelhandlung über den zugereisten US-Autor Cliff und seine neue Liebe Sally, zwei, die im Nebel des Faschismus ebenfalls die Orientierung verlieren, rückte Bob Fosse in der achtfach oscargekrönten Verfilmung von 1972 in den Vordergrund. Liza Minnelli erlebte ihren Durchbruch, Fritz Wepper schnupperte in einer Nebenrolle Hollywood- Luft.

Schnee von gestern eigentlich und doch reißt die Bühnenshow heute noch mit, die Unterhaltungssucht des Publikums, die Lust an der frivolen Grenzüberschreitung ist die gleiche geblieben. Die Berliner Inszenierung von Regisseur Vincent Paterson – er choreografierte schon die Tanzszenen für Lars von Triers „Dancer in the Dark“ – schlägt viel Kapital aus der Spiel-im- Spiel-Situation: Die Revuegirls umgarnen die Zuschauer, und wenn Frenchie einen neuen Sugar-Daddy braucht, dann setzt er/sie sich dem Nächstbesten auf den Schoß. Auf Tuchfühlung mit dem Publikum werden die Darsteller auch im Deutschen Theater gehen, ab 4. April ist die Berliner Produktion in München zu sehen. Parkett und Balkon werden bestuhlt, zwei Stunden vor Vorstellungsbeginn kann man im Parkett an einem der Tischplätze dinieren und sich vorab dem Cabaret- Flair hingeben.

Anzüglich-anziehender Charme

Der Verführkraft rechtsradikaler Ideologien, der im Stück auch der Devisenschmuggler Ernst nicht widerstehen kann, steht der anzüglich-anziehende, auch tröstliche Charme der leicht abgehalfterten Glamour-Welt entgegen. Als herrlich ruchloser Conférencier schmiert sich Oliver Urbanski in die Herzen, für ihn sei die Rolle, so der junge Schauspieler, der bereits unter den Regisseuren Luc Bondy, Claus Peymann und Peter Zadek gespielt hat, eine „willkommene Abwechslung, weg vom üblichen Gegrübel des Theaters“. Tragisch wird es dennoch, am Schluss fährt die Dampflok erneut, dieses Mal mit Nazi-Flagge vorbei. Sallys Hit „Life Is A Cabaret“ wird zum Revuesong mit bitterem Beigeschmack.

Hits ohne Verfallsdatum

Die Show muss weitergehen, und zumindest in Berlin schaute man Patersons Inszenierung gerne zu: Weil Hits wie „Maybe This Time“ oder das „Willkommen-Bienvenue- Welcome“ des Conférenciers kein Verfallsdatum haben. Weil ausnahmsweise auch von der Liebe jenseits der Sechzig (in Berlin großartig als Frau Schneider: Regina Lemnitz) erzählt wird. Und weil die Tanz-Girls nicht nur Sex-Appeal, sondern auch Bauch haben dürfen. Ein bisschen was auf den Rippen in Zeiten magerer Modelshows – so wird aus „Cabaret“ wahrhaftig ein Hör- und Augenschmaus.

Michael Stadler

Deutsches Theater, Schwanthalerstraße 13

Premiere am 4. April, bis 27. 4., Di bis Sa um 20 Uhr, So um 19 Uhr

Lädt
Anmelden oder registrieren

Zum Login
Zu meinen Themen hinzufügen

Hinzufügen
Sie haben bereits von 15 Themen gewählt

Bearbeiten
Sie verfolgen dieses Thema bereits

Entfernen
Um "Meine AZ" nutzen zu können, müssen Sie der Datenspeicherung zustimmen.

Zustimmen
 
0 Kommentare
Bitte beachten Sie, dass die Kommentarfunktion unserer Artikel nur 72 Stunden nach Veröffentlichung zur Verfügung steht.
Noch keine Kommentare vorhanden.
merken
Nicht mehr merken
X

Sie haben den Inhalt der Merkliste hinzugefügt.