Tierische (Alb)Träume: Anke Feuchtenbergers Graphic Novel "Genossin Kuckuck"

Sie hat die deutsche Comicszene geprägt wie kaum eine andere. Nun ist Anke Feuchtenbergers eigenwillige Graphic Novel "Genossin Kuckuck" über das Aufwachsen in der DDR eine Art Opus magnum geworden
von  Christa Sigg
Zwei kleine Mädchen versprechen sich ewige Freundschaft. Unterm bedrohlich große Maul eines Keilers.
Zwei kleine Mädchen versprechen sich ewige Freundschaft. Unterm bedrohlich große Maul eines Keilers. © Anke Feuchtenberger "Genossin Kuckuck / Reprodukt Verlag

Da sitzen Schweine mit gekräuseltem Kragen vor geöffneten Konservendosen. In einem apokalyptischen Wald bäumt sich eine monströse Nacktschnecke auf. Und durch den Nachthimmel flitzt ein weiblicher Orion auf Schlittschuhen. Im Kosmos der Anke Feuchtenberger ist alles möglich, aber vielleicht gehört das Eintauchen in surreale Welten auch zu den Überlebensstrategien in einem System, das wenig Freiheiten lässt.

In ihrer aktuellen Graphic Novel "Genossin Kuckuck" geht es düster zu, manchmal sogar saukomisch, und man weiß nie so recht, wo die Wirklichkeit aufhört und der (Alb)Traum beginnt. Unter der Trophäe eines Keilers schwören sich zwei kleine Mädchen - Kerstin und Effi - ewige Freundschaft. Das ist der Ausgangspunkt für eine Reise durch Feuchtenbergers eigene Vergangenheit und das Aufwachsen in der DDR. Das heißt, im fiktiven Dorf Pritschitanow, das einst von der ungarischen Volksrepublik mit einem gigantischen Lenin-Denkmal beschenkt wurde.

In Pritschitanow können gemütliche Feste schon mal eskalieren, wie letztlich vieles unter der streng gebürsteten Fassade gärt und blubbert und zwischendurch mit Gewalt an die Oberfläche schießt. Es wird nie offen geredet, am wenigsten über den Krieg. Das kennt man auch im Westen zu Genüge, allerdings mit dem feinen Unterschied, dass die Russen nach 1945 nicht nur Verbündete, sondern gute Freunde zu sein hatten. Unter allen Umständen.

Ausgerechnet Tiere beraten über die Aufgaben der Mütter

Feuchtenberger deutet solches nur an, aber ihr Rückblick zeigt natürlich, wie sehr das Politische ins Private und weit in die Familien hineinspielt. Kerstin, das Alter Ego der Autorin, und Effi haben beide nicht viel von ihren Müttern. Die eine verschreibt sich dem Aufbau des Sozialismus', deshalb wächst Kerstin bei der Großmutter auf. Die andere ist die wasserstoffblonde Dorfsexbombe, deren Mann Kontakt zu den russischen Soldaten unterhält und deren Geliebter ein Erziehungsheim leitet.

Es wird nie ganz klar, was da genau passiert, wie alles miteinander verkettet ist und wo so etwas wie Realsatire einsetzt. Feuchtenberger erzählt keine zusammenhängende Geschichte und sie entwickelt auch in diesen über zehn Jahre hinweg entstandenen Episoden ihre eigene, sehr rätselhafte Ikonografie. Das macht es mühsam. Auf der anderen Seite überlässt die 1963 in Ostberlin geborene Zeichnerin ihrem Publikum die Auslegung. Den Zeigefinger kennt sie sowieso nicht. Und vieles kann man in diesem Konglomerat aus Kinderkram und Drill, Solidarität und Übergriffigkeit auch nicht verstehen.

Dass ausgerechnet Tiere darüber beraten, unter welchen Umständen eine Mutter ihr Kind verlassen darf, hat schon wieder - im doppelten Wortsinn - fabelhaft schräge Züge. "Aber jemand muss doch arbeiten gehen", stellt Frau Kuckuck fest. Überhaupt sind es die Hunde und Wölfe, Eulen, Schweine, immer wieder die Schnecken und auch die Hunde, die einen ganz sonderbaren Sog ausüben.

Feuchtenberger, die seit über 30 Jahren an der Hamburger Hochschule für Angewandte Wissenschaften "Graphische Erzählung" unterrichtet, pflegt eine sehr eigenständige Bildsprache, fern jeder Marktstrategie. Mit Preisen wurde die Comic-Professorin überhäuft, und die Absolventen ihrer Klassen dominieren die deutsche Szene. Darunter Barbara Yelin, Simon Schwartz, Line Hoven und Sascha Hommer. Man brauchte sich also nicht zu wundern, als Feuchtenberger vor zwei Jahren, da war sie noch keine 60, beim Internationalen Comicsalon in Erlangen mit dem Preis für ihr Lebenswerk ausgezeichnet wurde.

Kein Ende in Sicht: Mit "Genossin Kuckuck" war kürzlich sogar zum ersten Mal eine Graphic Novel für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert - im Bereich Belletristik. Die Auszeichnung ging bekanntlich an Barbi Marcović, doch Feuchtenberger, die Pionierin poetischer Bildergeschichten, hat ohnehin alles erreicht. Dass ihr Opus magnum, wie es der Reprodukt Verlag bezeichnet, mit Goldschnitt versehen ist, spricht außerdem Bände.

Anke Feuchtenberger: "Genossin Kuckuck" (Reprodukt Verlag, 480 Seiten, 44 Euro)

merken
Nicht mehr merken
X

Sie haben den Inhalt der Merkliste hinzugefügt.