Anarchische Wundertüten
Nackte Brüste und drei Komiker-Duette gab es zum Abschluss der Tanzwerkstatt Europa.
Vergleicht man uns mit den anderen Primaten, dann sind sich der Biologe und der Verhaltensforscher einig: Die Brüste der Frau können mehr als Säuglinge stillen. Praktisch sind sie aber nicht. Beim Tanzen sieht man das besonders. Die anarchischen Wundertüten sind im Weg. Sie stören die Linie. Einmal in Bewegung, lassen sie sich nicht bändigen. Also werden sie in Lycra gepackt, um die Illusion der Kontrolle nicht zu zerstören – der Tänzerin über ihren Körper und der Choreografie über beide. Im Tanz ist man ratlos: Ein Fuß hat 23 Muskeln, alle lassen sich (an)steuern. Was aber können Brüste?
Die Französin Alice Chauchat hat das untersucht und brüstet sich in „The Breast Piece“ ganz offen ihrer Attraktionen. Binnen 43 Minuten bringt uns die Choreografin und ausführende Tänzerin in großer Ruhe zur Kenntnis, was, außer hektischem Flossenzappeln eines verendenden Karpfens, aus einem Pfund Bindegewebe herauszuholen ist. Sie treibt nicht viel Aufwand. Ihre Bewegungen sind simpel und oft winzig. Wir aber staunen, weil sie nichts weniger tut, als den weiblichen Torso im Tanz neu zu definieren.
Ein charmanter Lückenbüßer
Dergleichen passiert selten genug. Bei der Tanzwerkstatt Europa gab es zumindest ein paar Versuche. Gut verteilt über die zehn Tage und abgemischt mit eher Altbekanntem. Bei dem Potpourri „Teachers' Time“ aus Kurzstücken der Workshop-Dozenten (die selbst auftreten) handelt es sich wohl um einen mehr oder weniger charmanten Lückenbüßer. Der immerhin dem Selbstbild der bitte unbedingt unfestivalhaften Werkstatt gerecht wird. Zumal den Abschluss der Veranstaltung jedes Jahr die Präsentation aus den rund zwanzig Kursen bildet.
Zufallsgäste finden sich da nicht so viele ein. Für die endete der Spaß einen Abend vorher mit dem Tanzkomiker-Duo Jonathan Burrows und Matteo Fargion. Ersterer ein ehemaliger Balletttänzer, der zweite Komponist, einigte man sich auf den kleinsten gemeinsamen Nenner. Handbewegungen im Sitzen („Both Sitting Duet“), einfache Schritte über die Bühne, begleitet von gesummtem „Aaaah“ („The Quiet Dance“) und schließlich, zurück auf den Stühlen, ein vorwiegend stimmliches Rhythmusduett („Speaking Dance“).
Minimalmusik meets Tanzgerippe, tief eingetaucht in lakonischen englischen Humor. Burrows und Fargion sind originell und ihre Trilogie ist hintersinnig. Und was so einfach aussieht, verlangt weit mehr Kontrolle als Alice Chauchats Busensolo. Doch Timing ist die Essenz des Witzes; nach 165 Minuten hat er sich mehr als verbraucht. So knüpfen die beiden unfreiwillig an das heimliche Festivalmotto an, ausgegeben von Simone Aughterlony zur famosen Eröffnung: „The Best and the Worst of Us“. Manchmal liegt das nahe beieinander.
Katja Werner