An den Wurzeln aller Schuld
Ein Meisterwerk, dem man sich aussetzensollte, obwohl es schockiert und verstört:In „Antichrist“ verhandelt der dänische Regisseur Lars von Trier düstere psychologische Untiefen
Schockstarre und hysterisches Überforderungs-Auflachen im Zuschauerraum – das war es bei der Weltpremiere beim Filmfestival in Cannes. „Rechtfertigen Sie sich“, schrie ein US-Journalist Regisseur Lars von Trier auf der Pressekonferenz entgegen.
Ja, dieser Film ist Folter, radikale Verstörung, Provokation. Und am Ende fragt man sich: Was habe ich da eigentlich gesehen? Ist „Antichrist“ ein mystisches Traktat über die weibliche Natur, ein Rache-Hammer der Frau für Hexen-Verfolgung und Frauenunterdrückung oder viel eher die Abrechnung eines männlichen Regisseurs mit Selbsthass, medeahafter Grausamkeit und naturhafter Irrationalität der Frau? Ist der Film ein Horror-Märchen oder ein sadomasochistischer Beziehungs-Psychothriller? Er ist all das und jedenfalls ein Meisterwerk.
Der Film beginnt so unheimlich stilisiert, in Zeitlupe, wenn in glänzendem Schwarz-Weiß zu Händel-Musik Willem Dafoe und Charlotte Gainsbourg intensivsten Sex haben in Bildern wie Kunst-Aktfotografie.
Sprung in den schneeumflockten Tod
Dagegen geschnitten das Kinderzimmer, in dem der kleine Sohn erwacht, ganz langsam auf die Fensterbank klettert, das Fenster öffnet und neugierig, selig mit dem Kuschelbären in den schnee-umflockten Tod springt. Schneestiebender Aufprall und Orgasmus fallen zusammen. Sex und Schuld.
Die Frau wird sich von dem Vorfall nicht mehr erholen, der Mann wird machohaft, männlich-rational überlegen ihre Depression und Hysterien therapieren – per harter Konfrontation. Und gemeinsam gehen sie in ihr Holzhaus im unheimlichen deutschen Märchenwald, wo Fuchs und Krähen diabolisch reden:
Natur nicht als Garten Eden, sondern als satanische Bedrohung, als Satans Kirche. Hier hatte sie zurückgezogen ihre Doktorarbeit über gewaltsame Frauenunterdrückung schreiben wollen und war am wissenschaftlichen Zugriff gescheitert.
Hierhin zurückgekehrt, rächt sie sich an der rationalen Dominanz ihres Mannes, rammt ihm eine Eisenstange durchs Bein und kettet ihn an einen Schleifstein – auch in masochistischer Angst, er könne sie verlassen. Sich pervers selbst bestrafend und grausam lustbefreiend beschneidet sie sich selbst. Eine Schockszene!
Aufschrei der Feministinnen
Solche tiefen-psychologischen Verwerfungen entziehen sich einer rein analytischen Diskussion und nicht nur Feministinnen werden aufschreien. Dabei wertet die – nur scheinbar – männliche Sicht Lars von Triers die Frau nicht ab, sondern erklärt sie nur zum naturnäheren, für Männer letztlich unzugänglichen Wesen.
Charlotte Gainsbourg (siehe Interview Kino-Stadt Seite 4) ist in diesem verrätselten unvergesslich bilderstarken Film weit über die Grenzen üblicher Schauspielerei hinausgegangen und bekam die Palme als beste Schauspielerin in Cannes.
Sie ist nach Björk und Nicole Kidman die nächste Frau, die Lars von Trier für seine Projekte ausgebeutet hat, sieht es aber nicht so streng.
Soll man sich nun diesem dichten, grausamen Kunstwerk aussetzen? Ja, denn es ist eines der intensivst wirkenden Kinoerlebnisse, die überhaupt möglich sind.
Adrian Prechtel
Kino: Atelier, Neues Arena, Neues Gabriel, Studio Isabella, Monopol in OmU, im Cinema in OV
R & B: Lars von Trier
(Dänemark, D, 108 Min.)
- Themen:
- Nicole Kidman