Am Rand der Gesellschaft
Heute startet das Festival „Radikal jung“ im Volkstheater – mit „Juli“ von Iwan Wyrypajew
Mit einem harten Brocken beginnt heute „Radikal jung“, das Festival junger Regisseure im Münchner Volkstheater. Der 35-jährige Russe Iwan Wyrypajew lässt in „Juli“ einen geisteskranken Serienmörder erzählen. Inszeniert hat „Juli“ die 29-jährige Mareike Mikat, die seit einem Jahr am Schauspiel Leipzig unter Intendant Sebastian Hartmann die Experimentalbühne Skala leitet.
AZ: Frau Mikat, Sie haben schon für Ihr Regie-Diplom 2007 ein Stück von Iwan Wyrypajew inszeniert: „Sauerstoff“. Was interessiert Sie so an diesem Autor?
MAREIKE MIKAT: Die Aufgabe, die er mir stellt, indem er einen undramatischen Text anbietet. Für mich als Popkultur-Generation ist diese Form lesbar, denn wir haben unser ganzes Wissen popkulturell vermittelt bekommen. Wir leben in der Verbindung von Wort und Bild, der Text allein ist kein vollständiges Medium für uns. Die Aufgabe ist es, den Spagat zu schlagen, das Verständnis des Autors von der Welt zu vermitteln.
In „Juli“ schildert Wyrypajew grausame Gewalttaten.
Er beschreibt den Übergang von einer Gesellschaftsform zur anderen. In „Sauerstoff“ hat er die junge Generation beschrieben, hier wirft er einen großen Blick auf die Eltern-Generation am Rand der Gesellschaft. Es ist spannend, diesen Sprung mitzumachen.
Kennen Sie den Autor selbst?
Ich bin ihm vor drei Jahren in Moskau begegnet. Es war mir für meine Diplomarbeit wichtig, den Menschen kennenzulernen. Damals habe ich ihn gefragt, was die Figuren aus „Sauerstoff“ mit ihren Eltern zu tun haben, und er antwortete: „Nichts! Was sollen sie mit ihnen zu tun haben?“ Ich finde es interessant, dass er jetzt auch nach rechts und links schaut auf die Leute, die nicht vom Sauerstoff-Rausch mitgerissen worden sind. Im Stück finden sich brandaktuelle Entwicklungen des heutigen Russlands. Wyrypajews Generation wurde ja am härtesten von der Wende getroffen. 50 Prozent sind an Heroin gestorben – das weiß hier niemand. Er war ein freundlicher Gesprächspartner, ist aber auch schon sehr busy: Die Avantgarde wird auch in Russland sofort eingekauft.
Wie sind Sie zum Theater gekommen?
Künstlerisch bin ich nicht vorbelastet, ich bin in einer Arbeiterfamilie in Frankfurt an der Oder großgeworden. Eine aufgeschlossene Deutschlehrerin hat uns in Theateraufführungen geschickt, da habe ich Inszenierungen von Andreas Kriegenburg, Leander Haußmann und Armin Petras gesehen, die ich wahnsinnig toll fand. Ich war fasziniert von der Modernität des Mediums, das fand ich genussvoller und reicher als alles, was Frankfurt an der Oder sonst zu bieten hatte. Theater war für mich ein Ort, an dem es wirklich um etwas ging. Dann kam der obligatorische Theater-Jugendclub, und erst wollte ich natürlich Schauspielerin werden. Ich habe das auch kurz an der Theaterakademie in München studiert, aber schnell gemerkt, dass das für mich die falsche Seite der Bühne war. Ich wollte mich mehr gestalterisch einbringen.
Sie haben dann an der Ernst-Busch-Hochschule in Berlin Regie studiert. Welche Regisseure haben Sie beeinflusst?
Ich habe viel bei Armin Petras hospitiert. Mich interessiert sein sozialer Zugriff, er inszeniert aus einem sozialen Blick heraus. Das war meine Initialisierung. Dann entwickelt man eigene Vorstellungen.
Was erwartet den Zuschauer in Ihrer „Juli“-Inszenierung?
Ein Trip mit einer gespaltenen Persönlichkeit durch die Peripherie einer sich wandelnden Gesellschaft. Es geht um eine schizophrene Wahrnehmung von Wirklichkeit, um die Ergründung der Wahrhaftigkeit einer Erzählung. Wobei das Visuelle auf einer anderen Ebene arbeitet als der Text.
Gabriella Lorenz
Aus der Not eine Tugend gemacht
So strikt wie am Anfang nimmt man’s mit der Altersbegrenzung auf 30 jetzt nicht mehr, galt doch Volkstheater-Intendant Christian Stückl auch mit 39 noch als junger Regisseur. Zum fünften Mal veranstaltet das Volkstheater mit Hilfe des Sponsors E.on vom 17. bis 23. April das Festival „Radikal jung“, das sich zum Publikumsmagneten nicht nur für junge Zuschauer entwickelt hat. Fast 97 Prozent Auslastung waren’s 2008 – auch jetzt sind schon einige Vorstellungen ausverkauft.
40 Aufführungen hat die Jury – Schauspielerin Annette Paulmann, Dramaturg und Festivalleiter Kilian Engels und Publizist C. Bernd Sucher (der wieder ein Buch mit den Porträts der jungen Regisseure herausgebracht hat) – gesehen und acht eingeladen. Aber „Radikal jung“ will kein Bestentreffen sein, sondern in den Blick rücken, was die jungen Regisseure beschäftigt, und Perspektiven des Theaters von morgen aufzeigen.
Stückl hat aus der Not seines schmalen Budgets die Tugend gemacht, mit jungen Leuten zu arbeiten – und erweist sich als Talente-Scout. Einige der zu früheren Festivals eingeladenen Regisseure haben schon bei ihm inszeniert: u.a. Christine Eder, Frank Abt und Simon Solberg, der dieses Jahr mit seinem „Faust“ das Volkstheater vertritt.
Dafür gibt es noch Karten
„Juli“ von Iwan Wyrypajew, Schauspiel Leipzig, Regie: Mareike Mikat, 17. 5., 19 Uhr (ausverkauft), 18. 4., 15 und 19.30 Uhr (noch Karten), „Caligula“ von Albert Camus, Deutsches Theater Berlin, R: Jette Steckel, 18. 4., 20 Uhr, 19. 4., 15 und 20 Uhr (alles ausverkauft), „Die Räuber“ von Schiller, Schaubühne Berlin, R: Lars Eidinger, 19. 4., 20.30 Uhr (ausverkauft), „Letztes Territorium“ von Anne Habermehl, Thalia Theater Hamburg, R: Corinna Sommerhäuser, 20. 4., 19.30 Uhr (noch Karten), "Ödipus“, Theaterakademie Hamburg, R: Felix Rothenhäusler, 21. 4., 20 Uhr (noch Karten), „Glaube Liebe Hoffnung“ von Horváth, Maxim Gorki Theater Berlin, R: Ronny Jakubaschk, 22. 4., 19.30 Uhr (noch Karten), „Die Reise“ nach Bernward Vesper, Theater Erlangen, R: Eike Hannemann, 22. und 23. 4., je 18 und 21 Uhr (noch Karten), „Faust“ nach Johann Wolfgang von Goethe, Volkstheater, R: Simon Solberg, 23. 4., 19.30 Uhr (noch Karten), Podiumsgespräche 18. und 23. 4., 17 Uhr, Eintritt frei, Karten: www. muenchner-volkstheater.de