Alma: Die Frau steht hinter Hitchcocks Erfolg und was er darüber dachte

Tochter Patricia Hitchcock erzählte einmal eine kurze Geschichte: "Go
tt sitzt auf einem Berggipfel und halbiert Tausende von Orangen, deren Hälften er hinunter ins Tal rollen lässt. Und manchmal stoßen die beiden Teile derselben Orange wieder aufeinander und werden wieder zu einer." Für Pat, wie sie ihr Leben lang nur gerufen wird, sind diese Orangenhälften Alma und Hitch, ihre Eltern.
Sein Name ist weltweit bekannt, sein umfassendes ikonisches Werk zählt zu den bedeutendsten des 20. Jahrhunderts: Alfred Hitchcock. Im Leben dieses Regisseurs gibt es jedoch eine Person, die nicht nur maßgeblichen Anteil an seinem filmischen Werk hat, an dem sie von Beginn an mitarbeitete, sondern ohne die er keine wichtigen Entscheidungen traf: Alma Reville.

Hitch war nur die Hälfte ohne sie
Ihre gemeinsame Geschichte ist die Geschichte eines außergewöhnlichen Paares, das über fünf Jahrzehnte - von 1926 bis Alfreds Tod 1980 - symbiotisch zusammenlebte und zusammenarbeitete. "Hitch", wie ihn Freunde und Familie nennen, macht ohne Alma keinen Schritt oder Schnitt: Dies gilt nicht nur für das private, familiäre Leben, sondern auch für das berufliche, künstlerische. In 53 Jahren als verheiratetes Paar erschaffen Alfred Hitchcock und Alma Reville ein Werk von 53 Filmen. Doch Almas erheblicher Anteil am Erfolg ihres Ehemanns wurde über all die Jahrzehnte kaum gewürdigt.
Er hat sie nicht einen Tag gelangweilt
"Sie waren einfach eins", erklärt Tere Carrubba, eine der drei Hitchcock-Enkelinnen heute über ihre Großeltern, die sie dreißig Jahre lang erlebte. Ihre ältere Schwester, Mary Stone, ergänzt: "Ohne sie konnte er nicht leben." Und von Alma selbst ist jenes schöne Bonmot über diese fünf Jahrzehnte währende Verbindung überliefert: "In all den Jahren, die wir zusammen sind, hat mich mein Mann nie gelangweilt. Es gibt nicht viele Frauen, die das von sich sagen können."

Alfred und Alma Hitchcock werden beide im August 1899 geboren - er am 13. in London, sie am 14. In Nottingham. Als sie sich 1921 zum ersten Mal in den Londoner Filmstudios in Islington über den Weg laufen, da lassen sie sich nicht mehr aus den Augen. Sie steht in der Studio-Hierarchie weit über ihm, arbeitet längst als Cutterin und sogenanntes Continuity Girl, während er lediglich der Zeichner für die Zwischentitel der Stummfilme ist - weswegen er sie erst anzusprechen wagt, als er 1923 Regie-Assistent ist. Es sind noch die post-viktorianischen Zeiten. Als sie am 2. Dezember 1926 in London heiraten, am 7. Juli 1928 ihre Tochter Patricia zur Welt kommt, machen sie kaum mehr einen Schritt ohneeinander - im Leben nicht, im Arbeiten auch nicht.
Von London nach Beverly Hills, Los Angeles
Nach zahlreichen Filmen anderer Regisseure, bei denen sie mitarbeiten, debütiert Hitch 1925 mit seinem ersten eigenen, "Irrgarten der Leidenschaft", der in weiten Teilen in München-Geiselgasteig entsteht, wie auch sein zweiter "Der Bergadler" (1926). Es folgt Film auf Film. Es werden Klassiker des englischen Films der 30er Jahre: von "Der Mieter" (1927) über "Die 39 Stufen" (1935) bis hin zu "Eine Dame verschwindet" (1938). Alma nennt sich "filmverrückt". Sie teilt diese Passion mit Hitch. Als 1939 der Ruf aus Hollywood von Produzent David O. Selznick kommt - Hitch soll "Rebecca" (1940) inszenieren -, verlässt die dreiköpfige Familie ihre englische Heimat und übersiedelt nach Beverly Hills, Los Angeles.

Wieder folgt Film auf Film. Heute zählen sie zum internationalen Filmkanon, gehören zum kollektiven Gedächtnis. Und Alma schreibt an Drehbüchern mit, entwickelt Stoffe, trifft gemeinsam mit Hitch essenzielle Entscheidungen bis hin zur Besetzung der Hauptrollen. Ohne Alma trifft Hitch keine dieser Entscheidungen.
Alle nervös: "Psycho" war komplett anders
Im Frühsommer 1960 gilt es, nach der Produktion Hitchcocks neuesten Film den Studio-Bossen auf dem Universal-Gelände in Hollywood vorzuführen. Anspannung liegt in der Luft. Der Film, der an diesem Tag vorab intern gezeigt wird, trägt einen schlichten, knappen Titel: "Psycho".
Nach all den farbenfroh leuchtenden Filmen der letzten Jahre, nach "Das Fenster zum Hof" (1954) und "Über den Dächern von Nizza" (1955), nach "Vertigo" (1958) und "Der unsichtbare Dritte" (1959) - alle mit großen Stars wie Grace Kelly und Kim Novak, Cary Grant und James Stewart -, nun ein unaufwendiger Schwarz-Weiß-Film über einen noch bei seiner Mutter wohnenden Betreiber eines heruntergekommenen Motels, der mitunter Frauenkleider trägt und auch sonst an Neurosen und Ambivalenzen nicht arm ist.
Niemand war es aufgefallen: Ein Blinzeln oder Atmen?
Beinahe klingt das nach Trash. Alle sind skeptisch. Der Regisseur ist selbstverständlich ebenfalls anwesend. Und wie immer bringt er die Person mit, der er blindlings vertraut. Ohne sie findet keine Vorführung statt, gibt es keine Abnahme der sogenannten Null-Kopie und auch keine Freigabe fürs Kopierwerk. Als die Lichter nach der Studio-Vorführung wieder angehen, meint sie zu ihm: "Du kannst den Film nicht rausgeben, Hitch!" Alfred Hitchcock will seinen Ohren nicht trauen. "Warum nicht?", fragt er beunruhigt. Vor nichts anderem hat der Pedant so viel Angst wie vor dem Unvorhersehbaren. "Weil Janet Leigh noch atmet, als sie bereits tot ist", antwortet Alma. Niemand sonst hatte es zuvor gesehen. Weder Hitchs gewissenhafter Cutter George Tomasini noch Saul Bass, der die Titel-Sequenz auch zu diesem Hitchcock-Film entworfen hat und überdies als visueller Berater fungiert. Ja, und auch er selbst, Hitchcock, nicht. Bei einem akribischen Perfektionisten ein für ihn selbst unverzeihlicher Faux pas. "Niemandem außer ihr war es aufgefallen", erzählt Tochter Patricia Hitchcock und der Stolz auf ihre Mutter ist ihr, während sie auf dem Sofa sitzt und über ihre Eltern spricht, deutlich anzusehen.
Bis heute wird dieser signifikante Alma-Moment tradiert, allerdings in mehreren leicht voneinander differierenden Versionen. Psycho-Hauptdarstellerin Janet Leigh erinnert sich: "Es war eigentlich ein Blinzeln. Mrs. Hitchcock sagte zu ihrem Mann, dass sie mich in der Einstellung, die groß mit meinem Auge beginnt, blinzeln sah. Der Cutter und ich schauten uns die Einstellung an, und keiner von uns hatte es bemerkt."
Ehrenpreis: von Tippi Hedren über Sean Connery bis Henry Fonda
Frühjahr 1979. Ingrid Bergman reist nach Los Angeles. Sie möchte alte Freunde besuchen, in Hollywood die Luft ihrer einstigen Wirkungsstätte schnuppern. Vor allem aber gilt es, einen alten Freund zu ehren: Das American Film Institute, AFI, das alljährlich einer Persönlichkeit den AFI Life Achievement Award verleiht, hat für die im März bevorstehende Zeremonie Alfred Hitchcock ausgewählt. Ingrid Bergman soll als Conférencière durch die Gala führen. Es ist eine weitere, späte Ehrung für ihn, der wie Charlie Chaplin zu Lebzeiten nie einen Oscar erhielt.
Die Veranstaltung wird im Fernsehen übertragen, es ist so ziemlich alles da, was in Hollywood Rang und Namen hat. Nicht zuletzt einige der Hitchcock-Stars, etwa Janet Leigh, Anthony Perkins, Sean Connery oder Henry Fonda. Sogar Tippi Hedren ist gekommen. Und natürlich Hitchs wichtigste "leading Men": Cary Grant und James Stewart. Den beiden Letzteren wird die Ehre zuteil, direkt neben dem Geehrten am Tisch zu sitzen. An Hitchs rechter Seite sitzt Alma.

Dank an vier Personen: Alma, Alma, Alma und Alma
Schließlich ist es an Hitch, all den Laudatoren zu danken. Unter großen Mühen erhebt er sich vom Stuhl, fällt einmal in diesen zurück, erhebt sich erneut, und hält seine Dankesrede, nicht ohne abermals die Legende um seinen fünfminütigen Gefängnisaufenthalt als fünf- oder sechsjähriger Junge in London zum Besten zu geben.
Der bewegendste Moment dieser Rede ist zweifellos jener, in dem er anstelle aller Schauspielerinnen, Filmcrews und Mitarbeiter seiner Filme lediglich vier Personen seines Lebens dankt: "Die erste der vier ist Cutterin, die zweite Drehbuchautorin, die dritte ist die Mutter meiner Tochter Pat, und die vierte die beste Köchin, die jemals Wunder in einer häuslichen Küche vollbracht hat - und sie alle heißen Alma Reville. Ich teile diese Auszeichnung mit ihr, wie ich mein Leben mit ihr geteilt habe."
Sie wurde nie ausreichend gewürdigt
Tochter Patricia Hitchcock erklärt im Gespräch: "Meiner Meinung nach wurde meine Mutter nie ausreichend dafür gewürdigt, was sie alles tat. Und das, obwohl mein Vater keinen einzigen Film in Angriff nahm, ohne sie vorher das Drehbuch lesen zu lassen. Sagte sie Nein, verfolgte er das Projekt nicht weiter. Das gilt übrigens auch für die Auswahl der Darsteller, Autoren und vieles andere. Sie war auch die Erste, die den fertigen Film sah. Außerdem arbeitete sie als Cutterin. Lediglich die Los Angeles Times schrieb nach ihrem Tod: ,Der Hitchcock-Touch hatte vier Hände - zwei davon gehörten Alma'."
Thilo Wydra: "Alma & Alfred Hitchcock - Eine Liebe fürs Leben" (Heyne, 496 Seiten, 55 Abbildungen, 24 Euro)