Alles im Axl-Stream
Es ist vielleicht wirklich das beste Album aller Zeiten von Guns N’Roses: Eine erste Begegnung mit dem Weltereignis „Chinese Democracy“
Hat das eigentlich noch was mit Musik zu tun? Sich nächtens auf Webseiten herumtreiben, testen, welcher Browser mit dem Audiosignal zurechtkommt, beim Hören auf den Bildschirm starren, auf dem ein Link unter riesigem Bandlogo verkündet: „Chinese Democracy Streaming Tonight on Myspace“? Musikgenuss ist das nicht. Egal, denn eines der am sehnlichsten erwarteten Alben der Rockgeschichte wird nach 17 (!) Jahren vorab im Internet präsentiert.
Das fünfte Studiowerk der kalifornischen Hardrock-, Metal- und Schwulstbaladen-Band Guns N’Roses war schon auf dem besten Weg zum Treppenwitz, doch jetzt existiert es tatsächlich. An diesem Wochenende startet die Kampagne. Davor kam die Nacht der Nächte: Von Donnerstag auf Freitag war im Internet zu hören, was Sänger Axl Rose, als einziger übrig von der Urbesetzung, mit rund einem Dutzend Ex-, Interims- und Neu- „Gunners“ seit der Zeit des ersten Golfkrieges getrieben hat.
Das Lästermaul gibt schnell Ruhe
Der Zähler auf dem Myspace-Player zeigt gegen 22 Uhr 364158 Aufrufe für den Titelsong. (Nebenbei: Wer’s kann, knackt die Download-Sperre in wenigen Minuten.) Langsam ruckelt der Scrollbalken. Erst ist nichts zu hören außer sphärischem Gezirpe und Gezupfe. Ketzerische Gedanken: War die Band nicht immer völlig überschätzt?Die zu spät geborene Monstergruppe im Geist der 70er Jahre? Eine Metal-Band fürs Mainstream-Radio? Und: Kann man nach dieser irrwitzig langen Anlaufzeit überhaupt etwas anderes abliefern als überproduzierten Designerrock?
Nach genau einer Minute und einer Sekunde Dudel-Intro ist das alles kein Thema mehr: Ein Gitarrenriff kracht mit solcher Wucht durch die Boxen, dass das Lästermaul auf der Stelle Ruhe gibt. Nach drei Minuten ist Ex-Gitarrist Slash vergessen, nach drei Songs denkt man das Undenkbare: Könnte es sein, dass das nicht nur ein sehr gutes, sondern das beste Guns N’Roses-Album aller Zeiten ist? Es wäre nicht nur das Verdienst des in Hochform singenden Axl Rose, sondern vor allem des aktuellen Gitarristen Ron „Bumblefoot“ Thal – so viele Sound-Ideen muss man erst mal haben.
Druckvoll, elaboriert, hochaktuell
Scharfkantige Techno- Soundsplitter im Stile der Nine Inch Nails fliegen durch das ansonsten heftig stampfende „Shackler’s Revenge“. Immer wieder gibt’s Neues zu entdecken: Polyrhythmisches, Trashiges, Flamenco. Zwischendrin ein typischer Seufzer-Axl am Klavier („Street Of Dreams“). Schließlich sogar Drum’n’Bass („If The World“) – holen die tatsächlich alles auf einmal nach? Dabei wird nie nur zitiert, alles verschmilzt zum druckvollen, elaborierten, hochaktuellen Metalsound. Wer hätte das gedacht? – Die Band, die stilistisch immer hinterherhinkte und sich dann buchstäblich in der Zeit verlor, springt mit einem Satz in die Zukunft.
Ein Radio-Hit à la „November Rain“ drängt sich beim Hören des Internet-Streams zwar nicht auf. Aber es sind 14 Songs, von denen mindestens zehn jeder für sich eine Rückkehr auf die große Rock-Bühne rechtfertigt. Bis 23.30 Uhr registriert der Player bereits 445281 Aufrufe, bis Freitag Mittag 746090. Scheint ziemlich gut zu laufen für Guns N’Roses.
Michael Grill
Guns N’Roses: „Chinese Democracy“ (Universal)
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