Akkordeon statt Gefängnis

Dunkel, schwarzhumorig, befremdend, magisch: So könnte man das britische Band-Trio, die Tiger Lillies, beschreiben. Ab Donnerstag sind sie mit ihrer „Freak Show“ auf dem Tollwood
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Dunkel, schwarzhumorig, befremdend, magisch: So könnte man das britische Band-Trio, die Tiger Lillies, beschreiben. Ab Donnerstag sind sie mit ihrer „Freak Show“ auf dem Tollwood

Damals war das Londoner Soho noch ein Vergnügungs- und Bohème-Viertel. Hier gründete Martyn Jacques in seiner Bude über einem Bordell die Drei-Mann-Band Tiger Lillies. Mit ihrer „Freak Show“ feiert die schräge Combo ihr 20-jähriges Bestehen und ist für fünf Tage zu Gast am Tollwood.

AZ: Mr. Jacques, was machen Sie als Londoner Exzentriker in München?

MARTYN JACQUES: Ich gehe in den „Dreigroschenkeller“, gleich bei diesem verhauenen Kino an der Isar, den Museum-Lichtspielen. Und natürlich ins Valentin-Musäum. Und am Freitag kann ich leider nicht zum Münchner Freak Tiger Willi, weil ich selbst auf der Bühne bin.

Was verbindet Sie mit Deutschland?

Meine Vorliebe für Brecht, Weill und die Weimarer Republik in ihrer Experimentierfreude und Verruchtheit. Das war ein einzigartiges Biotop, wo ich Inspiration hernehme.

Sie kommen mit einer „Freak Show“: Wie schafft man es, 20 Jahre lang ein Freak zu bleiben?

Ich habe mich nie verstellt. Aber wenn ich als Außenseiter in meiner verhauenen Bude meine Energien nicht in Musik gesteckt hätte, was wäre ich heute? Wohl ein Krimineller, Junkie und im Gefängnis.

Woody Allen hat das gleiche gesagt über sich: Seine Kriminellen im Film sind Abreaktionen eigener Anlagen.

Aber können Sie sich Woody Allen als Figur im Gefängnis vorstellen? Ich denke, er wäre für die Hölle geeigneter, wie viele von uns Künstlern. Künstler fühlen sich oft in der Gesellschaft unbehaglich und brauchen so gefährlicherweise ein Ventil.

Seit dem Privatfernsehen werden Freaks täglich präsentiert, die Tabubruch-Schwelle ist in unserer abgebrühten Gesellschaft sehr hoch.

Ich arbeite auf der absoluten Gegenseite zu diesen TV-Machern, die voyeuristisch Menschen quotenträchtig ausbeuten. Ich komme aus der Subkultur, singe Lieder und Songs aus der Sicht von Menschen, die von der Gesellschaft weggedrückt werden. Diese „Dreigroschenoper“-artigen Außenseiter-Songs können als Kunstform zusammen mit einer Bühnen-Show eine suggestive Atmosphäre erzeugen. So kann der Zuschauer die Psyche und das Lebensgefühl dieser Menschen spüren. Das ist meine Kunst.

Ist nicht auch der Londoner City-Banker mit Bowlerhut und Handschuhen ein Freak?

Natürlich, und ich trage auch einen Bowlerhut. Und die chassidischen Juden mit ihren Hüten und Schläfenlocken sind auch auffällig kostümiert. Verkleidung ist ein Ausdruck des Freak-Seins, aber es gibt natürlich auch die Freaks hinter der normalen Fassade.

Zum Beispiel?

Man muss nur an die ganzen so genannten „Nerds“ denken, die Typen, die hinter dem Computer den Kontakt zur Realität verlieren.

Sie singen mit Kopfstimme, im Falsett. Ist mit der neuen Popularität von Counter-Tenören in der Klassik da nicht heute der Überraschungseffekt weg?

Ja, der Schock ist weg, aber ich will nicht schocken.

Wie kam es zu Ihrer Stimm-Akrobatik? Klaus Nomi war in den 80ern so ein Pop-Stimm-Freak?

Aber ich bin kein Popmusiker, ich bin eher durch „Cabaret“ und Varietés inspiriert. Mit Ende Zwanzig suchte ich meinen Stil, begann Akkordeon zu spielen. Meine Falsett-Stimme dazu erhöht das Surreale.

Hat Ihr Erfolg Ihre Exzentrik ruiniert?

Mein Erfolg war langsam und ich kann mir immer noch keinen Swimming-Pool leisten, den ich auch gar nicht brauche. Ich bin ein Szene-Musiker, ein Außenseiter und reise immer noch Economy-Klasse, was schon besser ist als Schiffsreise, Innenkabine, Maschinenraum.

Adrian Prechtel

26. bis 30.11., Tollwood, Grand Chapiteau, Beginn 19.30 Uhr, 19 bis 29 Euro, Tel. 38385015

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