Ästhetische Gewalt
Das Filmfest in Venedig beginnt mit dem gewagten Eröffnungsfilm „Schwarzer Schwan“ von Darren Aronofsky und Julian Schnabels bislang politischtem Werk
Stronzo!“, brüllt eine enthemmte Autogrammjägerin das italienische Vulgärschimpfwort dem französischen Sexidol-Macho Vincent Cassel hinterher. Denn er würdigte die mit Stiften und Blöcken seit Stunden wartenden Fans hinter der Absperrung am Roten Teppich keines Blickes. Das ist arrogant, stillos, gemein.
Clooney, die größere Nummer, hat hier jahrelang Maßstäbe in der Behandlung von Fans gesetzt und dem ständig auf seine Uhr schauenden Festivaldirektor Schweißperlen auf die Stirn gesetzt, indem er nach erfolgreicher Händeschüttel-, Autogramm- und Fotografie-Orgie noch einmal zurück eilte und von vorne anfing. Dann kam Natalie Portman in Roter Robe und trippelte fragil dauerlächelnd ebenfalls einfach vorbei – mit einem kurzen Starlachen für die Fotografentribüne. Dann verschwand die Eröffnungs-Gesellschaft im abendlich angestrahlten weißen Palazzo del Cinema zu Darren Aronofskys „Schwarzem Schwan“ – einem beeindruckenden Psychothriller mit Horror-Elementen und lesbischen Masturbations-Sex-Träumen um eine Balletteuse (Natalie Portman) an der New Yorker Met, die sich in ihrem Perfektions- und Verfolgungswahn selbst zu Tode martert. Es war also alles reingepackt, durchaus spannend, sehr ästhetisch, aber letztlich nichts Besonderes.
Nach der Galavorstellung schleuste man alle ins nahe gelegen Excelsior, diesmal in den Ballsaal statt an den Strand, mit einem Imbiss statt einem Dinner. Auch den Dresscode hat man am Lido ein wenig heruntergefahren: Die Autolacke der Lancia-Festivallimousinen sind matt statt glitzer-metallisch. Man trägt Anzug statt Smoking, Cocktail- statt Abendkleid. Aber als die Mitternachts-Filmreihe mit dem ästhetisierten Gemetzelfilm „Machete“ des Tarantino-Freundes Rodrigues eröffnet wird, zeigt Jessica Alba, wie man dann alles richtig macht – und trägt eine schwarzes Vokuhila-Kleid: vorne cocktail-kurz, hinten schleppend lang. Und sie gibt zirkulierend strahlend Autogramme. Denn Venedig lebt auch davon, dass die Stars hier näher am Publikum sind. Nicht nur am Roten Teppich, für 40 Euro kann man zusammen mit allen angereisten Filmemachern selbst in der Sala Grande sitzen.
Wo bleiben die Stars?
Das Festival hat in diesem Jahr einen eklatanten Starmangel. Nicht einmal der schöne indische Jungstar Freida Pinto ist gekommen, obwohl sie die Hauptrolle in Julian Schnabels „Miral“ spielt, ein Film über den jüdisch-palästinensischen Konflikt, mit Pinto als Schülerin eines Waisenhaus-Internats, die an der Intifada teilnimmt und in die Mühlen des Konflikts gerät. Natürlich hat der Fantasie-Künstler Schnabel („Schmetterling und Taucherglocke“) den Erzählfluss kunstvoll aufgebrochen, manchmal Unschärfen als subjektiven Blick riskiert und irritierende Blickwinkel, so dass politische Kunst entstanden ist. Nur ist dies manchmal etwas zu plakativ, als hätte ihn fassungslose Wut gepackt. Was bei diesem Thema nicht verwunderlich ist.
Die japanische Verfilmung des Murakami-Erfolgsromans „Norwegian Wood“ war dazu das künstlerische Gegenstück: Die Reflexion über absolute, wenn unerwiderte Liebe, Sex und Tod von Regisseur Tran Anh Hung („Der Duft der grünen Papaya“) war so bildschön und ruhig, dass einige Zuschauer die Geduld verloren, anstatt die Gesichter und die stilisierte Natur einfach wirken zu lassen. Jetzt wartet man auf Sofia Coppolas Star-Burn-Out-Film „Somewhere“, auch wenn er selbst starlos ist.
Adrian Prechtel