Abdel Sellou - „Ich hatte keine Seele“
München - „Ziemlich beste Freunde“ ist der Überraschungshit dieser Kinosaison. Fast zwölf Millionen Zuschauer in Frankreich und mehr als sechs Millionen in Deutschland, haben die Geschichte des dreisten Sozialhilfeempfängers Driss gesehen, der als Pfleger bei dem schwerreichen und vom Hals abwärts gelähmten Aristokraten Philippe anheuert. Am Schluss des Filmes sieht man ein Foto der beiden Männer, auf deren Erlebnissen die Erfolgskomödie beruht: Philippe Pozzo und sein langjähriger Pfleger Abdel Sellou.
Nun hat Sellou ein Buch („Einfach Freunde“ Ullstein Verlag) geschrieben, in dem er nicht nur die Geschichte dieser ungewöhnlichen Freundschaft erzählt, sondern auch von seiner Kindheit und Jugend in der Pariser Vorstadt berichtet. 1971 in Algier geboren kam Sellou im Alter von vier Jahren nach Paris, wo er als Jugendlicher schon bald auf die schiefe Bahn gerät. Nach einem Gefängnisaufenthalt stellt ihn der Millionär Philippe Ponzo als Pfleger ein – der Beginn einer Freundschaft, die Sellous Leben grundlegend verändert.
AZ: Millionen Zuschauer in Frankreich und Deutschland haben sich „Ziemlich beste Freunde“ angeschaut. Was fasziniert so viele Menschen an dieser Geschichte?
Abdel Sellou: Ich glaube, es spielt eine wichtige Rolle, dass dieser Film auf einer wahren Geschichte beruht. Natürlich hätte sich auch ein Drehbuchautor so eine Story ausdenken können. Aber diese Geschichte entfaltet ihre Wirkung erst dadurch, dass hier wirklich zwei Menschen aus zwei vollkommen verschiedenen Welten aufeinander getroffen sind, miteinander geredet, gelacht und schließlich achtzehn Jahre ihres Lebens zusammen verbracht haben.
Im Grunde ist es eine Art Aschenputtel-Geschichte. Dort, wo ich aufgewachsen bin, hätte ich einen reichen Typen wie Pozzo nie kennengelernt und wenn, dann hätte ich ihn wahrscheinlich gleich ausgeraubt. Unsere Begegnung war ein Kulturschock, aber Freundschaft kennt keine sozialen Grenzen oder Rassenschranken. Alles ist möglich. Nichts ist unvorstellbar.
Und wie fühlt sich das an, wenn man das eigene Leben auf der Leinwand sieht?
Die meisten Menschen blicken erst im Sterbebett auf das eigene Leben zurück. Ich konnte dies noch in einem sehr lebendigen Zustand tun.
Wodurch unterscheidet sich die Filmfigur Driss von seinem realen Vorbild?
Die Geschichte von Philippe Pozzo und mir hat achtzehn Jahre gedauert. Der Film dauert zwei Stunden und zeigt nur einen sehr kleinen Ausschnitt von meiner Lebensrealität. Auf der Leinwand werde ich von einem großen, athletischen Mann verkörpert.
Ich hingegen bin klein und dick und sehe eher aus wie Shrek. Ich kann auch nicht tanzen und erst recht nicht malen. Aber abgesehen von all diesen äußerlichen Aufbesserungen entspricht die Grundgeschichte der Realität. Die Filmversion ist ein Konzentrat meines Lebens, aber wenn man alles hätte zeigen wollen, was in diesem achtzehn Jahren passiert ist - das wäre langweiliger als eine Rede von Fidel Castro.
Was glauben Sie hat Philippe Pozzo in Ihnen damals gesehen, dass er sich für Sie als Pfleger entschieden hat?
Im Prinzip war er damals ein lebendiger Toter, der nichts mehr zu verlieren hatte. Vor allem aber wollte er kein Mitleid und in mir hat er einem Mann erkannt, der ihn wie einen ganz normalen Menschen behandelt. Von den vielen Bewerbern war ich der Einzige, der offen zu ihm gesprochen hat.
Ich habe eigentlich alles getan, um den Job nicht zu bekommen. Mir war alles egal und genau deshalb hat er mich eingestellt. Nun haben Sie ein Buch geschrieben, in dem Sie Ihre eigene Version der Geschichte und aus ihrer Kindheit und Jugend erzählen, die im Film ja nur angerissen wird.
Was war die Motivation für dieses Buch?
Es gibt einen Abdel vor und einen Abdel nach der Begegnung mit Philippe Pozzo. Im Grunde ist das Buch eine dreihundert Seiten starke Danksagung an ihn. Er hat achtzehn Jahre dafür gebraucht, aber er hat es geschafft meinen Geist zu öffnen. Ohne ihn wäre ich bestimmt wieder in die Kriminalität gerutscht und würde Ihnen heute eine sehr viel apokalyptischere Version meines Lebens erzählen.
Was würden Sie einem Jungen, wie Sie einer waren, heute raten?
Ich würde ihm erst einmal raten nicht das zu leben, was andere von ihm erwarten. Es geht zuallererst darum, sich selbst zu akzeptieren, wie man ist. Und natürlich geht es dann auch darum Verantwortung für das eigene Leben zu übernehmen und nicht immer alles auf die Gesellschaft zu schieben. Aber man schafft das nicht allein. Da braucht man Menschen, die einem helfen. Leute wie Pozzo. Trotz aller alltäglichen Härten beschreiben Sie Ihr kriminelles Jugendleben als Zustand vollkommener Freiheit.
Wie hat sich Ihre Sicht durch den Gefängnisaufenthalt verändert?
Freiheit ist für mich heute ein Synonym für Leben und ich habe damals nicht wirklich gelebt. Ich war wie ein Ball, der eine Straße hinunterrollt, ab und zu einmal anhält, aber seinen Weg nicht selbst bestimmt. Ich habe eher überlebt, als gelebt.
Wenn man kein Gespür für Grenzen hat, stößt man irgendwann unwillkürlich an eine fatale Grenze. Das war für mich das Gefängnis. Ich will jetzt nicht das Gefängnis als Schule fürs Leben glorifizieren. Aber durch meinen Haftaufenthalt bin ich erst einmal zur Ruhe gekommen und konnte nicht noch größere Dummheiten zu begehen.
An einer Stelle beschreiben Sie sich selbst als Jugendlichen mit den Worten: „Ich hatte keine Seele“. Woher kam diese Seelenlosigkeit? Ist Mitgefühl eine Fähigkeit, die man erst erlernen muss?
Mitgefühl wird einem in die Wiege gelegt, aber man muss es auch kultivieren. Die erste Person, mit der ich als Jugendlicher Mitgefühl hätte haben müssen, wäre ich selbst gewesen. Aber das hätte mich nur infrage gestellt. Um Mitgefühl zu entwickeln, muss man erst einmal ein Bewusstsein für sich und die Gesellschaft haben - und das hatte ich als Jugendlicher überhaupt nicht.
Wie sieht Ihr Leben heute aus?
Der alte Abdel von früher existiert nicht mehr. Diese Entwicklung hat 18 Jahre gedauert und war nur möglich durch meine Freundschaft zu Philippe Pozzo. Der Abdel von heute zeigt seine Gefühle, macht gerne Witze. Ich habe drei Kinder, bin verheiratet und führe ein glückliches, normales Leben.
Und wie geht es Philippe Pozzo heute?
Es geht ihm sehr gut, auch wenn er sich immer noch nicht bewegen kann und das für immer so bleiben wird. Er lebt mit seiner neuen Frau in Marokko.