800 Jahre Magna Carta

Die 800 Jahre alte Magna Carta, die große Urkunde der Freiheit, hat bis heute nichts von ihrer Gültigkeit eingebüßt.
Hans Götzl |
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Der 15. Juni 1215 war für König Johann von England ein rabenschwarzer Tag. Auf Druck des Adels sah er sich nämlich gezwungen, im südenglischen Runnymede in der Grafschaft Surrey eines der wichtigsten Dokumente des Mittelalters zu unterzeichnen, das bis heute nichts von seiner Gültigkeit eingebüßt hat: die „Magna Carta libertatum“. Zum ersten Mal durfte ein englischer Monarch nicht mehr von „Gottes Gnaden“ oder mit dem Segen des Papstes herrschen, sondern musste sich um einen Interessenausgleich mit den Adeligen und später sogar mit dem Volk bemühen.

Historisch betrachtet war dieser aufbrausende und starrsinnige König, dem diese öffentliche Demütigung widerfuhr, ohnehin einer der traurigsten Gestalten des Inselreichs. Er wurde verhöhnt, weil ihn sein Vater Heinrich II. bei der Aufteilung des Erbes übergangen hatte und er zeitlebens den Spitznamen „John Lackland“ (Johann Ohneland) trug. Er musste neidisch zusehen, wie sein älterer Bruder Richard, ehrfurchtsvoll „Löwenherz“ genannt, im Orient und in Frankreich siegreich von Schlacht zu Schlacht zog und kriegerische Lorbeeren erntete, während er zu Hause nur die Verwaltung und die Finanzen zu regeln hatte. Und er musste alsbald erkennen, dass er selbst dabei keine glückliche Hand hatte. Je höher nämlich der Steuerdruck zur Finanzierung seiner Kriege in Frankreich stieg, desto unbeliebter wurde er.

63 Artikel auf einem Pergament aus Kalbsleder

Das Fass zum Überlaufen brachte schließlich 1214 der Versuch des glücklosen englischen Königs, einem drohenden Angriff französischer Truppen auf England mit einer Invasion Frankreichs zuvorzukommen. Diese scheiterte jedoch kläglich. Die Schmach der bitteren Niederlage brachte den englischen Adel endgültig gegen ihn auf.

In lateinischer Sprache schrieben sie unter Führung des Erzbischofs von Canterbury auf einem Pergament aus Kalbsleder in 63 Artikeln jene Rechte auf, die sie vom König garantiert haben wollten.

Einige Abschnitte lesen sich wie das Fundament der modernen Demokratie. So steht im Artikel 46 die zentrale Aussage: „Kein freier Mann soll verhaftet, gefangen gesetzt, seiner Güter beraubt, geächtet oder verbannt werden, ohne dass vorher ein rechtmäßiges Urteil seiner Standesvertreter gefällt worden ist.“ Insbesondere, dass der König vor seinen Entscheidungen die Adeligen zu konsultieren habe, begründet das spätere Recht des Parlaments, die Macht des Königs zu beschränken.

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Von dieser rebellischen Gesinnung ließen sich auch die englischen Siedler anstecken, die sich Anfang des 17. Jahrhunderts in Nordamerika niedergelassen hatten. Alle 13 Kolonien erfreuten sich anfangs einer gewissen Selbstständigkeit. Als sich jedoch die Regierung in London anschickte, ihnen entscheidende wirtschaftliche Beschränkungen und willkürliche Zölle aufzuerlegen, verschlechterte sich das Verhältnis zwischen Mutterland und Kolonien zusehends. Vor allem die Tatsache, dass sie dem englischen Parlament, das ihnen solche Lasten aufbürdete, nicht einmal angehören durften, erboste sie.

Der Ruf nach „keine Besteuerung ohne Vertretung“ im Parlament wurde immer lauter und die Treue gegenüber dem englischen König von einer Reihe von Forderungen abhängig gemacht. Dazu gehörte vor allem die Unantastbarkeit der Freiheit, des Lebens und des Eigentums des Einzelnen.

Der erfolgreiche Ausgang des nordamerikanischen Freiheitskrieges bestärkte wiederum das Bürgertum im absolutistischen Frankreich, endlich den Aufstand gegen den Adel und Klerus zu wagen, um seine Forderungen durchzusetzen. Die Zeit war ohnehin reif für ein politisches Umdenken, das, ausgehend von naturwissenschaftlichen Experimenten, alles in Zweifel zog, was nicht mit dem Verstand erfasst und begründet werden konnte. Die Idee der Menschenrechte, der allgemeinen Gleichheit und der immer lauter werdende Ruf nach Freiheit fand begeisterte Zustimmung, ebenso Montesquieus Forderung nach einer Teilung der Gewalten in gesetzgebende, ausführende und richterliche Institutionen.

Seit der Französischen Revolution von 1789 waren alle bürgerlichen Schichten in allen europäischen Ländern von dem Wunsch nach einem demokratischen Staatswesen beseelt. Allerdings sollten noch einmal fast 100 Jahre vergehen, bis die Demokratie ihren Siegeszug auch auf dem alten Kontinent antreten konnte.

Eine neue Magna Carta gegen die Allmacht der Firmenimperien

Heute reicht ihre Strahlkraft bis weit in den Osten und sogar in den vom Islam geprägten arabisch-asiatischen Raum. Um ihre Machtpfründe zu retten, bemühen sich seitdem Diktatoren und Potentaten in aller Welt, ihre autoritäre Alleinherrschaft mit dem Deckmantel der Demokratie zu kaschieren. Begriffe wie „gelenkte“ oder „illiberale“ Demokratie sind beredte Zeugnisse vom sprachlichen Einfallsreichtum dieser Pharisäer.

Aber selbst in den demokratisch gefestigten Staaten ist nicht alles Gold, was glänzt. Gerade Griechenland liefert dafür in diesen Tagen ein trauriges Beispiel. Zwar bejaht die überwiegende Mehrheit der Bürger in Europa die Demokratie und vertraut dem Recht, das sie schützen soll. Dennoch nimmt die Unruhe in der Bevölkerung zu und das Vertrauen in die jeweiligen Regierungen ab, was sich in der zunehmenden Wahlabstinenz deutlich widerspiegelt. Beklagt werden die starren Rituale der Parteien und die zunehmende Verlagerung politischer Entscheidungen aus dem nationalen Raum in supranationale Gremien. Vor allem die Privilegierung international agierender Konzerne und die „Narrenfreiheit“ der Finanzmärkte ist den überzeugten Demokraten schon lange ein Dorn im Auge.

Hinzu gesellt sich die dumpfe Ahnung, im Zeitalter der Globalisierung und des Internets nicht nur ohnmächtig gegenüber den rasanten Entwicklungen zu sein, sondern auch noch durch geheime Abhör- und Bespitzelungsaktionen seiner Privatsphäre beraubt zu werden. „Big Data beim Autofahren, bei der Stromnutzung (...) daheim, datenfressende Apps im Smartphone und am Handgelenk als Lieferanten umfassender Gesundheitsdaten – das Alltagsleben wird potenziell verewigt, dem Zugriff Dritter geöffnet und damit dem Vergessen entzogen“, so Professor Jürgen Kühling in der FAZ.

Waren es einst Herrschaftscliquen, die die Freiheitsrechte ihrer Untertanen knebelten, so sind es heute globale Firmenimperien, die die mühsam erkämpften demokratischen Errungenschaften von innen her auszuhöhlen drohen. Die Zeit für eine neue Magna Carta scheint wieder einmal reif zu sein, nämlich einer Carta des Datenschutzes, der Vernunft und der Toleranz.

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