Yuja Wang, Kirill Petrenko und die Berliner Philharmoniker
Als der frenetische Applaus lange verklungen ist, als die mannshohen Instrumentenkasten der Berliner Philharmoniker krachend wieder auf die Lastwagen geladen werden, steht Kirill Petrenko mit drei, vier Vertrauten an einer Straßenecke gegenüber dem Salzburger Festspielhaus. Er wirkt nicht wie einer, der soeben an zwei Konzertabenden vorgeführt hat, was Kunst des Dirigierens heißt. In unseren heutigen Tagen. Und überhaupt. Statt sich im Triumph zu sonnen, unterhält sich Petrenko noch ein wenig. Und es würde einen nicht wundern, wenn er sich danach zum Partiturstudium zurückziehen würde. Als Belohnung sozusagen.
Vielleicht ist dieser mittlerweile legendäre Arbeitseifer des gebürtigen Russen der Schlüssel, um zu verstehen, wie er zu einem der momentan bedeutendsten Musiker werden konnte, dessen Dirigate nicht selten die Aura des Genialischen umgibt. Dass er vor drei Jahren als 43-jähriger zum Chefdirigenten der Berliner Philharmoniker gewählt wurde, war kein bloßer glücklicher Umstand, sondern fast notwendige Folge eines einzigartigen Reifungsprozesses.
Subversive Pointen
Während das erste der Salzburger Gastkonzerte berühmte Werke von Ludwig van Beethoven und Richard Strauss brachte, stellt er nun im zweiten mit den Berlinern Rares von Paul Dukas und Franz Schmidt vor. Das Signal ist ein Doppeltes: Petrenko wird sich in Berlin der Pflege des Kanons widmen, aber auch Nebenwege beschreiten, um das Repertoire zu erweitern.
Gerade die Auswahl der vierten und letzten Symphonie von Franz Schmidt lässt erahnen, wie sich der neue Chef seine 2019 beginnende Zeit in der deutschen Hauptstadt vorstellt. Fein subversiv ist die Pointe, dass der Komponist dieser spätromantischen Musik im Hauptberuf ein Wiener, nicht ein Berliner Philharmoniker war. In ihrer lange ausgebreiteten Tristesse ist Schmidts Vierte auch eine Herausforderung für das Publikum im Großen Festspielhaus. Wenn aber einer dieses fast schon zu privat anmutende Werk vermitteln kann, dann Petrenko.
Gleich mehrere Künste des Dirigierens zelebriert er hier: Er entwickelt diesen einzigen, riesenhaften Satz überwältigend organisch. Die vorherrschende Trostlosigkeit nimmt er an, anstatt sie zu bekämpfen, doch er erfüllt sie in jedem Augenblick mit Sinn und bringt sie somit zum Sprechen.
Mit einer Stimme singen
Die schüchtern geäußerten Emotionen können sich anrührend mitteilen, weil Petrenko die Berliner Philharmoniker als Ganzes in der Hand hat, quasi jeden einzelnen Musiker so dicht führt, dass das Orchester mit einer einzigen Stimme singt.
Dem Tanzpoem „La Péri“ von Paul Dukas stellt Petrenko die gleichnamige Fanfare voran, deren Blechbläserpracht nicht so recht zum weichen Wogen des Hauptstücks passen will. Doch genau dieser Kontrast interessiert ihn offenkundig, ähnlich, wie er in der Pastorale bewusst den rhythmischen Aspekt hervorhebt. Auch das ist typisch für die vielen Künste Petrenkos: dass er in einem beschaulichen Satz, statt einzulullen, hellwach auf die Suche nach belebenden Momenten geht.
Voll verwirklichen kann Petrenko seine Reaktionsschnelligkeit im Klavierkonzert Nr. 3 C-Dur von Sergej Prokofjew. Dessen Ecksätze fliegen mit einem solchen wohltuenden Leichtsinn vorbei, dass die Geschwindigkeit an Hexerei grenzt. Ein Solist müsste es eigentlich schwer haben, da mitzuhalten. Nicht so Yuja Wang. Die chinesische Pianistin scheint kaum die Tasten zu berühren und mit ihrem federleichten, kleinen, eher an ein Klavier als an einen Steinway-Flügel erinnernden Ton die comicartig dahinhuschende Orchesterbegleitung noch überholen zu wollen. Besser geht es nicht, besser kann man sich das nicht einmal vorstellen. Zu Recht bricht das Publikum nach dem Kopfsatz in Szenenapplaus aus.
Als eine Konzertbesucherin auf Nachfrage erfährt, dass ihr Sitznachbar, der sich Notizen macht, Kritiker ist, fragt sie nach dem Applaus anteilnehmend: „Und? Wird man Petrenko in München vermissen?“. Die Antwortet lautet: „Ja“. Aber er bleibt noch bis 2021 Generalmusikdirektor der Staatsoper.